Nach all diesen Jahren
Unglück stellte sie Raoul nicht gerade als ritterlichen Ehrenmann dar.
Ihre Eltern wären ganz sicher nicht begeistert, würde er so unvermutet wieder auf der Bildfläche erscheinen. Andererseits musste sie sie natürlich über die neue Situation aufklären. Ihre Mutter rief mindestens dreimal die Woche an und unterhielt sich dann auch mit ihrem Enkel. Es wäre fatal, wenn sie bei dieser Gelegenheit erfahren würde, dass dieser Frauenverführer, der ihre Tochter so schändlich behandelt hatte, wieder aufgetaucht war.
„Ich verstehe, was du meinst.“
„Ich bin sicher, sie werden dich akzeptieren“, sagte Sarah hastig. „So konservativ, wie sie sind, werden sie begeistert sein, dass Oliver jetzt Kontakt zu seinem Vater hat.“
Raoul stand langsam auf. „Ich melde mich morgen. Ach was, ich komme morgen vorbei, damit ich meinem Sohn vorgestellt werden kann.“
Seine Wortwahl enttäuschte Sarah. So sieht er das also. Als Pflichtübung!
„Soll ich ihm einen Anzug kaufen? Damit dein Sinn für Ästhetik nicht beleidigt wird?“, spottete sie.
„Deine Haltung ist nicht gerade hilfreich.“
„Deine auch nicht!“ Unwillkürlich stiegen ihr die Tränen in die Augen. „Wie kannst du nur so gefühllos sein? Ich habe mir mein Leben auch anders vorgestellt. Ich dachte immer, ich würde mich verlieben, heiraten und wenn dann ein Kind käme, wäre das ein Grund zur Freude. Nie hätte ich mir träumen lassen, einmal ein Kind mit einem Mann zu haben, der entsetzt ist, Vater geworden zu sein.“
Was erwartet sie denn von mir? Immerhin bin ich hier – bereit, mich der Verantwortung zu stellen! Außerdem wird sie demnächst ein neues Haus haben und sich nie mehr im Leben Sorgen um Geld machen müssen. Und da wagt sie es, mir Vorwürfe zu machen? Am liebsten hätte er ihr all das an den Kopf geworfen, beschränkte sich jedoch auf die Bemerkung: „Ja, komisch, nicht wahr? Das Leben ist einfach manchmal ungerecht.“
„Mehr hast du dazu nicht zu sagen? Also wirklich, Raoul! Manchmal … manchmal könnte ich dich ohrfeigen!“
Ihre Augen blitzten wütend, und ihre goldenen Locken wirkten wie das Haar der Medusa. Raoul fand sie unwiderstehlich.
„Ich fühle mich sehr geschmeichelt, solche Gefühlsstürme bei dir hervorzurufen“, sagte er rau.
Und plötzlich konnte er den Impuls nicht länger unterdrücken: Er vergrub seine Hände in ihrem Haar. Die Berührung wirkte wie ein Schock. Von Kopf bis Fuß schien ihn ein Stromstoß zu durchzucken.
Sarahs Lippen öffneten sich unwillkürlich. Mit geweiteten Augen sah sie ihn an. Und wenn ich sie jetzt küsse? schoss es ihm durch den Kopf. Die Erinnerung an ihre samtweichen Lippen stieg in ihm auf.
„Wage es ja nicht …!“
Er riss sie an sich und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. Instinktiv spürte er, wie ihr Körper auf ihn reagierte. Ihre Augen verdunkelten sich, und sie schloss die Lider.
Sarah stöhnte und schlang die Arme um seinen Nacken. Er hatte schon immer diese Wirkung auf sie gehabt. Ein Kuss, und sie vergaß alles um sich herum. Es gab nur noch ihn und sie. Sie schmiegte sich eng an ihn, spürte seine harte Männlichkeit. Ihre Brüste waren plötzlich hochempfindsam, jede seiner Berührungen ließ sie erschauern.
Da ließ Raoul sie los und wich zurück. „Das hätte ich nicht tun sollen.“
Einen Moment starrte Sarah ihn verständnislos an, dann überwältigte sie namenloses Entsetzen. Wie konnte ich nur! Nach allem, was er mir angetan hat. Und ich sinke beim leisesten Fingerzeig in seine Arme! Sie hatte sich verhalten wie ein Süchtiger, der seinen Stoff braucht.
„Was meinst du damit? Wovon redest du überhaupt?“, fragte sie.
„Das weißt du doch ganz genau. Diese … diese Sache zwischen uns.“
„Zwischen uns ist gar nichts!“ Unwillkürlich wich sie zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Wem versuchst du gerade hier etwas vorzumachen? Dir oder mir?“, stieß Raoul hervor.
„Vielleicht … vielleicht habe ich mich kurz hinreißen lassen … der alten Zeiten wegen.“ Sie holte tief Luft. „Aber jetzt, da wir das abgehakt haben, können wir ja …“
„So tun, als wäre nichts passiert?“
„Genau! Es ist auch nichts passiert. Es geht hier nicht um uns. Es geht um Oliver … und um dich als seinen Vater.“
Raoul sah sie so eindringlich an, dass ein Schauer über ihren Rücken lief. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was in ihm vorging. Er hatte schon immer seine Gedanken verbergen können. Im Gegensatz zu ihr
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