Nach all diesen Jahren
sofort das Wichtigste.“
„Das Wichtigste ist ja wohl Oliver. Du musst deinen Sohn kennenlernen.“
„Ich würde es vorziehen, dies in einer Umgebung zu tun, die ich für angemessen halte.“
Es wäre wirklich eine große Hilfe, wenn sie nicht jeden Penny zweimal umdrehen müsste. Sie seufzte. „Okay. Ich nehme zurück, was ich vorhin gesagt habe. Du hast dich doch nicht völlig verändert. Du glaubst immer noch, alles müsse nach deinem Kopf gehen.“
„Aber das hat nur mit deiner eigenen Unentschlossenheit zu tun. Du kannst jetzt natürlich gern deine Behausung verteidigen: Wie poetisch der morbide Charme abblätternder Tapeten und bröckelnden Putzes sei. Aber ich schlage vor, wir ersparen uns das. Ich kann dich hier herausholen und betrachte es als meine Pflicht, das auch zu tun.“
Seine Pflicht, dachte Sarah. Das Wort saß wie ein Stachel in ihrem Fleisch. Jetzt wusste sie, warum man von gnadenloser Ehrlichkeit sprach: Die Wahrheit tat manchmal schrecklich weh.
„Und wie stellst du dir das vor? Habe ich auch ein Mitspracherecht, oder wird das alles über meinen Kopf hinweg entschieden, weil du Geld hast und ich nicht?“
„Es wird alles über deinen Kopf hinweg entschieden, weil ich Geld habe und du nicht.“
„Haha! Sehr witzig!“ In Afrika waren die Nerven aller manchmal zum Zerreißen gespannt gewesen, da sie auf engstem Raum gelebt und gearbeitet hatten. Aber Raoul hatte es geschafft, selbst die heikelste Situation mit seinem Humor zu entschärfen. Versucht er es jetzt damit, um seinen Willen zu bekommen? fragte sie sich. Aber eigentlich war es auch egal. Nach Jahren des täglichen Kampfs war sein Angebot wie ein Geschenk des Himmels.
„Ich gedenke, meine Verantwortung sehr ernst zu nehmen. Davon kannst du ausgehen, Sarah. Es würde einfach zu viel Zeit kosten, jedes Mal hierherzukommen, um Oliver zu sehen. Wenn ihr näher bei mir wohnen würdet, wäre das eine große Erleichterung.“
Jetzt, da es um praktische Aspekte ging, konnte sich Sarah auch endlich auf das Gespräch konzentrieren. Zumindest musste sie nicht dauernd darum ringen, einen klaren Kopf zu behalten, was ihr sowieso nicht gelang.
„Ich fühle mich, als wäre mein Leben plötzlich eine Achterbahn“, gestand sie.
„Glaub mir, das ist nichts im Vergleich dazu, wie ich mich fühle“, erwiderte Raoul trocken.
Und doch stellte er sich der Herausforderung. Es spielte keine Rolle, dass ihn die Umstände dazu zwangen. Sarah würde sich damit abfinden müssen, dass zwischen ihnen ab jetzt eine Art Geschäftsbeziehung herrschte. Irgendwelche verworrenen Gefühle sollten nicht die Beziehung zu seinem Sohn verhindern.
„Das wäre also geklärt. Wir ziehen um. Aber es gibt noch andere Aspekte zu bedenken. Ich muss Oliver ja irgendwie darauf vorbereiten, dass er … dass er einen Vater hat. Das ist gar nicht so einfach, er ist noch so klein. Darauf musst du gefasst sein.
„Er ist vier“, meinte Raoul lakonisch. „Ich nehme nicht an, dass er in dem Alter schon eine Zu- oder Abneigung meiner Person gegenüber entwickeln konnte.“
„Schon, aber …“
„Lass uns nicht künstlich Probleme schaffen, wo keine sind, Sarah.“
Nachdem er endlich die unerklärliche Nervosität von vorhin im Kinderzimmer abgeschüttelt hatte, war er sicher, dass er Oliver im Sturm für sich einnehmen würde. Er, der sich in seiner Kindheit mit Secondhandkleidung, Secondhandspielzeug – und Secondhandgefühlen – zufriedengeben musste, würde seinem Sohn all das geben, was er selbst so schmerzlich vermisst hatte. „Immer eins nach dem anderen. Zuerst mal das Haus. Du kannst ja Oliver inzwischen auf meine Existenz vorbereiten. Hat er jemals … nach seinem Vater gefragt?“
„Nur so am Rand“, gestand Sarah. „Wenn er bei Kindergeburtstagen die Väter seiner Freunde gesehen hat.“
Raoul presste die Lippen zusammen, enthielt sich jedoch jeglichen Kommentars. „Du musst auch deine Eltern über den Umzug informieren. Wirst du ihnen sagen, dass ich wieder in deinem Leben aufgetaucht bin? Und welche Rolle mir darin zukommt?“
„Vielleicht warten wir damit noch ein bisschen.“
„Ich habe nicht vor, mich zu verstecken.“
„Ich befürchte nur, dass sie nicht gerade hocherfreut sein werden.“ Sie errötete schuldbewusst bei dem Gedanken daran, wie sie ihren Eltern damals die Situation geschildert hatte. Maßlos verletzt hatte sie ihnen gestanden, sich unsterblich verliebt zu haben und von dem Typ verlassen worden zu sein. In ihrem
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