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Nach all diesen Jahren

Nach all diesen Jahren

Titel: Nach all diesen Jahren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cathy Williams
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dessen Lebensgrundlage darauf beruhte, alles im Griff zu haben, war das ein erschütterndes Erlebnis. Und das alles wegen dieses Menschleins, das gerade mal neunzig Zentimeter maß.
    „Du bist so … so still“, bemerkte Sarah nervös, als sie wieder im Erdgeschoss waren.
    „Ich brauche etwas zu trinken. Und zwar etwas Stärkeres als Kaffee.“
    Sie nahm die halb volle Flasche Wein aus dem Kühlschrank und goss ihm ein Glas ein. Forschend blickte sie ihm ins Gesicht und versuchte zu ergründen, was in ihm vorging. Gleichzeitig zwang sie sich dazu, die Sehnsucht niederzukämpfen, die sie unvermutet überfiel.
    „Du hast recht“, bestätigte Raoul, nachdem er den Wein in einem Zug ausgetrunken hatte. „Die Ähnlichkeit ist unverkennbar.“
    „Warte, wenn du ihn erst bei Tageslicht siehst. Er hat auch deine Augen. Ehrlich gesagt, hat er äußerlich gar nichts von mir. Selbst meine Mutter meinte das, direkt nach der Geburt. Willst du vielleicht ein paar Bilder sehen, die er gemalt hat? Er geht zweimal die Woche in eine Spielgruppe … ich bekomme Unterstützung dafür, dass er da hingehen kann.“
    „Was meinst du mit Unterstützung?“
    „Vom Staat natürlich.“ Überrascht sah sie Raoul an. Wie sollte man als Putzfrau sonst die Kinderbetreuung bezahlen? An den Vormittagen, die Oliver im Kindergarten verbrachte, half sie in der Schule aus, an der sie demnächst unterrichten würde – bisher allerdings nur ehrenamtlich.
    „Unterstützung vom Staat?“, wiederholte Raoul mit eiserner Beherrschung. „Weißt du eigentlich, was mein Ziel im Leben war? Mein einziges Ziel? Der Sozialhilfe und der Gängelei durch die staatlichen Institutionen zu entkommen! Selbst die Kontrolle über mein Leben zu haben! Und jetzt erzählst du mir, dass du auf staatliche Unterstützung angewiesen bist!“
    „Du tust ja so, als wäre das ein Verbrechen.“
    „Es ist absolut erniedrigend!“
    Die Worte trafen sie wie ein Schlag. Doch sie reckte ihr Kinn und sah ihm rebellisch in die Augen. Wenn ich jetzt klein beigebe, glaubt er, ich würde immer nach seiner Pfeife tanzen. Wie damals – und was mir das eingebracht hat, sehen wir ja jetzt.
    „Ich kann deine Einstellung nachvollziehen. Wirklich. Aber deine Vergangenheit hat absolut nichts mit meiner Situation zu tun. Ich kann es mir einfach nicht leisten, den Kindergarten zu bezahlen. Du wärst entsetzt, wenn du wüsstest, wie wenig eine Putzfrau verdient. Meine Eltern unterstützen mich zwar nach Kräften, aber es ist trotzdem schwierig. Du – in deiner Position – hast gut reden! Aber man lernt sehr schnell, seinen Stolz hinunterzuschlucken, wenn es täglich am Nötigsten fehlt. Und darum nehme ich auch gern die staatliche Unterstützung für den Kindergarten an!“ Plötzlich verspürte sie selbst das Bedürfnis nach einem Glas Wein. Sie hatte das Gefühl, sich stärken zu müssen. „Ich kann mich nicht erinnern, dass du früher auch schon so ein unsäglicher Snob warst. Du hast dich wirklich weit mehr geändert, als ich es für möglich gehalten hätte.“
    „Ein Snob? Ich? Da irrst du dich aber gewaltig!“
    „Offensichtlich hast du deine eigene Vergangenheit völlig verdrängt. Erinnerst du dich überhaupt noch daran, dass damals deine Kleider geflickt werden mussten, weil du es dir nicht leisten konntest, neue zu kaufen?“
    „ Du hast sie geflickt“, berichtigte er mit gepresster Stimme. Daran erinnerte er sich nur zu gut. Genaugenommen, als wäre es gestern gewesen. Sie hatten in dem engen, stickigen Zimmer gesessen und nach den Moskitos geschlagen, während draußen der Donner grollte, der den sintflutartigen Regenfällen stets vorausging. Sarah hatte auf dem Bett gesessen, sich konzentriert der Flickarbeit gewidmet und wie ein Gemälde von Rembrandt ausgesehen.
    „Davon abgesehen habe ich die Vergangenheit ganz und gar nicht vergessen. Im Gegenteil: Ich denke unablässig daran“, riss Raouls Stimme sie aus ihren Gedanken.
    Plötzlich tat er Sarah unsäglich leid, aber sie zwang sich, das zu verbergen.
    „Ich gebe zu, die jetzige Situation passt nicht in meine Zukunftsplanung“, fuhr er fort, „aber ich will, dass du weißt, dass sich ab jetzt alles ändern wird. Dieses Haus kann ja wohl kaum als bewohnbar betrachtet werden!“ Er registrierte Sarahs warnenden Blick und lächelte entschuldigend. „Okay, ich übertreibe etwas. Auch wenn du mich wieder als Snob beschimpfst: Ich kann es mir leisten, dir etwas Besseres zu bieten – und das ist für mich ab

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