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Nach alter Sitte

Nach alter Sitte

Titel: Nach alter Sitte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Breuer
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einen Partner hatte oder gute Freunde, so wie jetzt. Ein wenig wie ein entwurzelter Baum, der schon sehr früh zum Treibholz im Fluss des Lebens geworden war.
    Lorenz’ Tochter ging ihm nicht aus dem Kopf. Er selbst hatte nie die Chance auf Kinder gehabt, der Gedanke an eine eigene Familie war ihm auch niemals gekommen. Nicht ernsthaft zumindest. Gustav versuchte sich vorzustellen, wie es sich anfühlen würde, ein Kind zu verlieren. Er wusste, dass ihm das letztlich unmöglich sein würde, doch so fühlte er sich dem Freund ein wenig näher. Er beschloss, Lorenz nichts übelzunehmen, was immer dieser in der nächsten Zeit auch noch an Schrulligkeiten offenbaren würde.
    Gustav spürte, wie ein leiser Schmerz hinter seinen Schläfen entstand. Er beschloss, die Enge seines Zimmers zu verlassen und einen Spaziergang durch die laue Nacht zu unternehmen. Leise trat er auf den Flur und schlich durch das Haus bis zu einem Seiteneingang, für den er seit Langem einen Schlüssel hatte. Als er unter freien Himmel stand, fühlte er sich gleich wohler. Allein der Kopfschmerz wurde dennoch stärker. Es entstand ein Druck hinter der Stirn, der sich auf die Augäpfel übertrug und ihm das Sehen erschwerte. Gustav wusste, was das bedeutete. Es wurde ihm schwarz vor Augen, dann plötzlich wurde alles in ein gleißendes weißes Licht getaucht. Gustav versuchte sich umzusehen, sich zu orientieren. Doch da war nichts, woran sein suchender Blick sich hätte festhalten können. Der Kopfschmerz war verschwunden. Doch auch alles andere war ebenso weg. Gustav überlegte, was da eben noch um ihn herum gewesen war. Er konnte sich nicht erinnern. Vermutlich hatte er sich das nur eingebildet. Da war niemals etwas gewesen – nichts außer ihm selbst. Ein leises, regelmäßiges Pochen drang an sein Ohr. Er brauchte einige Zeit, um zu merken, dass dies sein Herzschlag war. »Beweg dich«, sagte er zu sich selbst, und seine Stimme kam ihm vor wie die eines Fremden. Doch es gab keinen Fremden – er war allein in dieser endlosen milchig weißen Einöde. Dessen war er sich sicher. Und etwas sagte ihm, dass er nicht stehen bleiben und seinem trügerischen Herzschlag lauschen durfte. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Es fühlte sich nicht so an, als ob er vorwärtsgehen würde, denn es gab kein Vorne und kein Hinten in dieser von allem verlassenen Welt.
    Gustav spürte die Einsamkeit, aus der Verzweiflung erwuchs, und er hatte eine Ahnung, dass dieses Gefühl sein ganzes Leben bestimmt hatte. War da nicht einmal jemand gewesen, der seine Hand gehalten hatte, wenn er ängstlich und einsam war? Jemand, dem er voll und ganz vertraute, ohne dass dies eine Begründung gebraucht hätte? Gustav konnte nicht mehr weitergehen. Der Alte hockte sich hin, worauf auch immer seine Füße zu stehen schienen, und verharrte in dieser Haltung. Er hatte das dringende Bedürfnis, eine menschliche Stimme zu hören, und so sagte er laut zu sich selbst: »Da muss doch jemand sein. Wenn niemand da ist, der deine Hand hält, wozu dann eine Hand?«
    Zu seinem Erstaunen vernahm er eine Antwort. Leise und undeutlich, aber es war eine menschliche Stimme, die ihm antwortete: »Dann nimm die meine.«
    Gustav spürte, wie etwas Warmes seine Hand umschloss, dann einen sanften Druck an seinen Schultern. Weiche Lippen auf den seinen. Eine Ahnung von Sicherheit, ja, Geborgenheit breitete sich in ihm aus. Und so wie dieses Gefühl stärker und stärker wurde, sickerte die milchige Umgebung in eine angenehme Dunkelheit, aus der sich bald ein Bild abzuzeichnen begann. Zwei Augen, ein Mund, ganz nah bei ihm. Er spürte die Wärme, die von der Haut ausging.
    »Gustav, geht es dir gut?«, fragte Alexander Grosjean und drückte ihn an sich. Gustav hielt den Atem an, wagte nicht zu antworten oder sich zu bewegen. Er wusste nur, es war schon wieder geschehen. Und offenbar hatte Alexander ihn draußen gefunden, wie er schlafwandelnd umherirrte. Eine ganze Weile hing er regungslos in den Armen des Mannes, den er kaum kannte und dem er sich doch in diesem Moment anvertrauen wollte. Oder war es nur die Verwirrung nach dem Anfall, die ihn so schwach machte? Gustav löste sich langsam aus seiner Starre und aus der Umarmung Alexanders. Er versuchte ein Grinsen. »Jetzt kennst du mein Lieblingshobby«, sagte er.
    Alexander merkte, wie Gustav sich von ihm lösen wollte, und wich seinerseits ein wenig zurück. »Sieht so aus, als würdest du schlafwandeln. Machst du das oft?«
    »Hin und

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