Nach alter Sitte
hinunterschlängelte, klang dumpf das Geräusch eines einsamen Fahrzeugs.
Die Freunde waren längst gegangen. Lorenz glaubte noch eine Ahnung von Bärbels unaufdringlichem Parfüm wahrzunehmen. Doch bald verlor sich diese süße Spur im hereinfließenden Luftstrom. Wie so vieles sich verliert, dachte der Alte. Das Leben, das er früher geführt hatte – es war versickert, verweht, nur in Teilen auf alten Fotos kleben geblieben. Die Bilder in seinem Kopf hatten angefangen zu verblassen. Das musste wohl so sein, wenn man alt wurde. Oder hatte er es zugelassen? Marias Gesicht, in ihren letzten gemeinsamen Jahren, fast war es verschwunden. Ganz scharf dagegen im Gedächtnis ihr buntes Kleid, ihre Bewegungen, ihre Stimme, als er sie kennengelernt hatte vor mehr als einem halben Jahrhundert. Und wie hatte Gerda ausgesehen, als sie sich zum letzten Mal von ihm verabschiedet hatte? Er ertappte sich dabei, ein kleines Mädchen von vielleicht zehn Jahren durch die Tür hüpfen zu sehen. Nicht die erwachsene junge Frau, die zum Studium nach Berlin fuhr. Trug sie eine enge Jeans und eines ihrer John-Wayne-Hemden, die Maria und er so unschicklich für ein Mädchen gehalten hatten?
Die lange Zeit der Ungewissheit, die quälenden Fragen, ob sie tatsächlich tot war und ob sie viel gelitten haben mochte – in Wahrheit war es nie vorbei gewesen. Das war ihm jetzt klar.
Lorenz sog die laue Nachtluft ein, so viel seine Lungen fassen konnten. Er hoffte, so die Enge in seiner Brust überwinden zu können. Es half nicht. Vielleicht wäre es gut, einen Spaziergang durch den Kurpark zu machen. Lorenz suchte nach seinen Schuhen. Als er den ersten anzog, spürte er den Schmerz in seinem Knie. Er ließ das Vorhaben wieder fallen und legte sich aufs Bett. Vielleicht würde er schlafen können. Aber er glaubte nicht daran.
Der Schmerz wurde beinahe unerträglich. Wie so oft in letzter Zeit. Es würde schlimmer werden, hatte der Arzt gesagt. Die Kopfschmerzen und der Verlust des Geschmackssinns waren erst der Anfang gewesen. Vielleicht würde das Sehzentrum als Nächstes betroffen sein. Der Mann nahm mit zitternden Händen die Packung mit den Tabletten und hielt sie eine Weile fest, als würde das Medikament auch so schon einen Teil seiner Wirkung entfalten können. Er gab sich einen Ruck und warf die Packung gegen die Wand. Nein, er würde den Schmerz aushalten. Er war stark, brauchte keine Betäubung. Seine Finger strichen über einen Zeitungsausschnitt, dessen Überschrift im Schein der flackernden Kerzen, die vor dem Schrank standen, so gerade lesbar war.
Opa Bertold löst Mordserie – Rüstiger Rentner deckt Nazizelle auf .
Der Mann lachte heiser auf. Leise murmelte er: »Wie gut bist du wirklich, mein guter alter Opa Bertold? Wir werden es sehen.«
Er blies die Kerzen aus und schloss den Schrank. Dann trat er ans Fenster und öffnete es. Ein leichter Wind trug frische Luft ins Zimmer. Der Mann atmete tief ein. Er wusste, dass er in dieser Nacht nicht würde schlafen können. Und er spürte, Lorenz Bertold würde es genauso gehen.
Noch jemand war in dieser Nacht von Unruhe gepackt und blieb schlaflos. Gustav Brenner hatte sich noch einen Kaffee gemacht und sehr langsam getrunken. Normalerweise beruhigte ihn das, und er konnte dann entspannt zu Bett gehen. Doch nun gelang ihm dies nicht. Was er eben von Lorenz und Bärbel erfahren hatte, war nicht dazu angetan, schnell Nachtruhe finden zu können. Gustav konnte kaum fassen, wie ruhig Lorenz bei alldem zu bleiben schien. Doch er kannte den Freund und wusste, dass es in dem alten Kauz ganz anders aussah, als er sich äußerlich den Anschein gab. Daher konnte Gustav auch problemlos darüber hinwegsehen, dass der Freund sich etwas seltsam verhielt, was ihn anging. Er wusste, dass Lorenz etwas unbeholfen in erotischen Dingen war und mit seiner Homosexualität erst recht nicht umgehen konnte. War Opa Bertold dennoch etwa eifersüchtig auf den Neuzugang in der Seniorenresidenz, Alexander Grosjean? Es war offensichtlich, dass er diesen nicht sonderlich mochte, obwohl Grosjean ihm dazu keinen Anlass gegeben hatte. Gustav seufzte. Er hatte einmal gedacht, jenseits der siebzig würde es einfacher werden. Doch so war es nicht. Es wurde eher komplizierter. Er wollte nach den Irrungen und Wirrungen der Jugend nun im Alter ein einfaches Leben führen, ohne Luxus und Ausschweifungen, ganz in sich gekehrt. Er war auf eine gewisse Weise immer einsam gewesen, selbst wenn er wie damals in Uruguay
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