Nach alter Sitte
mir jetzt dieses Kind auch noch nehmen?« Dann fiel ihm auf, wie seltsam sich das für ihn anhörte, und so musste Kommissar Wollbrand für den Kommentar herhalten: »Der in Ehren ergraute Ermittler hatte lange nicht mehr so deutlich gespürt, dass sein Sohn eben auch sein Kind war.«
Gustav war neben ihn getreten. »Alter Junge, mach dich nicht verrückt. Stephan taucht bestimmt gleich auf.«
Lorenz sah den Freund über dessen Spiegelbild im Fenster an und schüttelte den Kopf. »Nein, ich spüre etwas. Sehr ungut.«
Bange Minuten vergingen. Niemand wusste, womit er das Schweigen sinnvoll hätte durchbrechen können. So blieben sie stumm, bis Ritas Telefon klingelte. Die Kommissarin meldete sich, hörte konzentriert zu und sagte dann, bevor sie das Gespräch mit einem Tastendruck beendete, nur knapp: »In Ordnung, mach das. Wir überlegen, was weiter zu tun ist. Ich melde mich.« Sie atmete tief durch und erklärte: »Papas Auto wurde mit offen stehender Tür vor seinem Haus gefunden. Von ihm keine Spur. Es hat niemand was gesehen. Ella leitet die Fahndung ein.«
Lorenz war sich sicher gewesen, eine solche Nachricht zu erhalten, und dennoch traf es ihn nun wie ein Tritt in den Magen. »Was machen wir denn jetzt?«, fragte er.
Rita ließ sich nicht anmerken, was sie empfand angesichts der Tatsache, dass ihr Vater vermutlich gerade von einem brutalen Mörder entführt worden war. »Die Dürener Polizei setzt jetzt alle Mittel in Bewegung, um Papa zu finden. Ich schicke Ella schnell noch ein paar Bilder von ihm.« Sie tippte eine Weile auf ihrem Handy herum.
Paul legte einen Arm um sie und hielt sie fest. »Wir sollten jetzt ganz genau überlegen, wo wir gezielt suchen könnten«, sagte der riesenhafte Kommissar dann. »Komm, Lorenz, bei der Katharina hattest du doch auch den richtigen Tipp.«
Lorenz nickte stumm und versuchte nachzudenken, spürte aber, dass er für den Moment völlig blockiert war. Hilfe suchend sah er Bärbel an. Sie verstand und begann, laut zu denken: »Also, ich kenne die eine oder andere Darstellung des heiligen Stephan als Märtyrer. Er wurde meistens abgebildet mit Steinen auf seinem Kopf, weil er eben gesteinigt wurde. Lorenz, wie hast du eben gesagt, wo wurde er gesteinigt?«
Lorenz ging an den Computer zurück und betrachtete die Ergebnisse seiner letzten Suche. »Vor den Toren der Stadt.«
»Was bedeutet das für uns?«, fragte Gustav. »Wenn wir auf dem richtigen Weg sind, wo würde der Mörder Stephan hinbringen?«
»Ein Steinbruch?«, meinte Benny.
»Gute Idee, aber so was haben wir hier nicht«, antwortete Lorenz. »Die Nideggener Burg hat früher lange Zeit als Steinbruch gedient. Nideggen hat zwei erhaltene Stadttore, das Dürener und das Zülpicher Tor. Dann gibt es noch das Nyckstor vor der Burg. Aber davor eine Steinigung zu inszenieren, ist unmöglich. Außerdem gehen wir doch von einem einzelnen Täter aus, oder? Alleine jemanden zu steinigen, wie soll man sich das vorstellen?«
»Und wenn man Steine auf jemanden herabfallen lässt?«, überlegte Gustav. »Vom Burgfelsen zum Beispiel? Das ist, wenn man so will, auch vor den Toren der Stadt.«
»Könnte sein«, stimmte Lorenz zu. »Das könnte es wirklich sein.«
»Dann sollten wir eine Einheit dorthinschicken«, meinte Rita.
»Nein«, widersprach Lorenz. »Ich kann nicht hier sitzen und abwarten. Ich will selbst hin.«
29. Kapitel
Der Schmerz raste in immer neuen Wellen durch sein Hirn. Und er hatte keine Tabletten mehr. Jetzt musste er es eben so zu Ende bringen.
Es war ein langer Weg gewesen. Früher hatte das Töten mehr Spaß gemacht. Jetzt war er verbraucht, abgenutzt, sein Körper genauso wie sein Geist. Ein grandioses Finale hatte es werden sollen. Und jetzt?
Trotzig richtete der Mann sich auf, ungeachtet der Schmerzen, die ihm befehlen wollten, sich zu verkrümmen, sich mit angezogenen Beinen auf die Seite zu legen wie ein Kind. Oft hatte er beobachtet, wie sie sich auf diese Weise hinlegten. Wenn sie spürten, dass keine Hoffnung mehr war, wenn ihr Instinkt ihnen sagte, dass sie gut daran taten, sich ein letztes Mal an den warmen Mutterleib zu erinnern, den sie verlassen hatten, nur um letztlich ihm zu begegnen.
Er gestattete sich diese Haltung nicht. Er sollte so zu seinem Ende gehen, wie er immer gelebt hatte. Stark, immer die Kontrolle auf seiner Seite. Nur einmal hatte er beinahe die Kontrolle verloren. Bei diesem außergewöhnlichen Mädchen. Gerda Bertold. In ihr hätte er sich verlieren
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