Nach dem Amok
Stadtkerns, in Gegenden, wo ich sonst nicht unterwegs bin. Hier drauÃen sind die Leute anders, als ob etwas von ihnen abfiele, sobald sie von der Arbeit oder der Schule nach Hause kommen, hierher, in ein anderes Leben.
Ich bleibe auf dem Gehweg neben dem Vorgarten eines Wohnhauses stehen, das drei Stockwerke hat. Im Erdgeschoss werkelt eine Frau am Herd herum, aus dem Küchenfenster duftet es nach Abendessen, es könnten Kartoffeln dabei sein und etwas Paniertes. Es beginnt bereits zu dämmern, in der Wohnung hat man schon das Licht eingeschaltet. Nur eine fast durchsichtige Gardine legt einen feinen Schleier über das, was sich drinnen befindet. Ich steige über die kleine Vorgartenmauer. Als ich näher an das Fenster herantrete, höre ich die Frau summen, ein Lied, das ich von früher kenne, irgendwoher, ich glaube, es muss ein Gutenachtlied sein, es erinnert mich an Momente vor dem Einschlafen. Die Frau nimmt Teller aus dem Schrank. Es klappert, als sie den Küchentisch deckt, ein vertrautes Geräusch, das in jeder Küche in jedem Viertel einer jeden Stadt vorkommt.
»Rainer! Luki! Essen ist fertig!«, ruft sie.
Ein kleiner Junge kommt unter Freudengeheul in die Küche gerannt. Dahinter betritt ein Mann den Raum.
»Spatz, hast du dir die Hände gewaschen?«, will die Frau vom Jungen wissen.
»Ohne meine Hilfe«, kommt der Mann einer Antwort zuvor.
Der Junge nickt stolz und streckt seiner Mutter die Handflächen entgegen.
»Toll«, sagt sie. Es klingt, als meine sie ihr Lob ehrlich, als sei es keine Floskel.
Dann sitzen die drei am Tisch und ihre Gespräche werden leiser. Ich muss ganz nah ans Fenster treten, um sie zu verstehen. Eine alte Frau wackelt mit ihrer Gehhilfe auf dem Bürgersteig vorbei und mustert mich mit einer seltsamen Mischung aus Irritation und Abschätzigkeit. Ich tue so, als würde ich auf jemanden warten, den Rücken an die Hauswand gelehnt, nur ein paar Zentimeter neben dem Fenster. Als ob ich hier wohnen würde oder zu Besuch wäre. Sie entfernt sich und redet dabei mit sich selbst, ein unverständliches Gebrummel.
»Ich habe Opa das Bild geschenkt«, verkündet der Junge.
Das Besteck klappert auf den Tellern. Mein Rücken an der kalten Hauswand wird von einem leisen Frösteln geschüttelt, der Jeansstoff meiner Jacke hält die Kälte kaum ab.
»Er hat sich bestimmt riesig gefreut«, sagt der Vater.
»Er hat gesagt, ich werde mal ein berühmter Maler!«
Die Eltern kommentieren die groÃväterliche Prophezeiung nicht, aber ich spüre, ohne es zu sehen, wie sie sich über den Tisch hinweg anlächeln und sich in der zärtlichen Gewissheit liebender Eltern absolut sicher sind, dass ihr Sohn alles schaffen wird, was er sich vornimmt.
»Hattest du einen guten Tag im Büro?«, höre ich die Mutterstimme.
»Alle sind am Durchdrehen. Du kennst ja die Situation. Es ist anders als früher. Ach, Schatz, ich bin so froh, dass ich euch habe.«
Als ob die beiden ihn gegenüber allem Bösen auf der Welt verteidigen könnten. Im Schutz der immer dunkler werdenden StraÃe spähe ich vorsichtig in das von sanftem Licht erhellte Wohnungsinnere. Sie lachen jetzt alle drei, der Junge hat einen Witz erzählt. Soweit ich es mitbekommen habe, hat er die Pointe versemmelt, doch das ist egal. Hier ist alles wunderbar, was ihnen das Gefühl gibt, dass sie zusammengehören. Ich denke an meine eigene Familie. Ich glaube, wir waren früher genauso wie diese Leute. Wir haben selten gestritten, und wir wussten immer, was wir aneinander hatten. Wir dachten, wir könnten uns aufeinander verlassen. Einander vor allem Bösen auf der Welt beschützen. Wir dachten, nichts könnte uns das jemals nehmen.
Ich trete vom Fenster zurück. Dabei geht ein Strahler vor dem Haus an, der Lichtkegel trifft mich mit voller Wucht. Ich erstarre. Noch immer bin ich so dicht am Fenster, dass ihnen klar sein muss, dass ich sie beobachtet habe, falls einer von ihnen nach drauÃen sieht. Ich sollte schnellstmöglich von hier verschwinden, aber ich schaffe es nicht. Die plötzliche Helligkeit blendet und mein ausgekühlter Körper lähmt mich. Allmählich gewöhnen sich meine Augen an das Licht des Strahlers und ich kann das Innenleben der Küche wiedererkennen. Die Mutter und der Vater haben mich nicht bemerkt. Nur der Junge sitzt da, die volle Gabel in der Hand, und sieht
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