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Nach dem Amok

Titel: Nach dem Amok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myriam Keil
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lassen. Ich könnte Heilpraktikerin sein oder Anwältin. Vielleicht auch Maklerin oder Inhaberin eines Tanzstudios. Nur eines werde ich auf den Karten niemals sein: Schülerin in der 10b des Albert-Einstein-Gymnasiums.
    Ich drehe die Fotografin-Visitenkarte zwischen den Fingern. Dann lege ich sie auf den Grabstein von Helga Trautwein und gehe endlich zurück zu jenem Grab, wegen dem ich hergekommen bin. Hinter dem Stein mit seinem Namen, diesem Namen, der ihn und mich unweigerlich verbindet, wächst ein dicker Stamm aus der Erde. In den ersten Wochen, in denen ich herkam, war dieser Baum noch ohne Laub und sah aus wie jeder andere. Dann wurde es wärmer, es kamen die ersten Knospen. Seit letzter Woche ist offensichtlich, dass es sich bei dem Baum um eine Blutbuche handelt. Es ist die einzige Blutbuche auf dem gesamten Friedhof. Sie spreizt ihre Äste und Blätter noch über drei weitere Gräber, aber ihr Stamm wächst hinter seinem Grab hervor, wie ein Stigma. Es ist kein Zufall, dass er diesen Platz unter den blutroten Blättern zugewiesen bekommen hat, es kann kein Zufall sein.
    Ich sage: »Es geschieht dir recht.«
    Ganz leise sage ich es und schaue mich sofort um, ob jemand in der Nähe ist und es gehört haben könnte. Da ist niemand, also wiederhole ich es, lauter diesmal: »Es geschieht dir recht.«
    Ich warte darauf, dass das Gesagte eine Wirkung entfaltet, dass irgendetwas in mir beginnt, sich gut anzufühlen. Doch das Gegenteil ist der Fall, als ich auf die Erde sehe. Diese mit Blumen bedeckte Erde, diese hilflose Entschuldigung an ihn. Was, wenn er sie womöglich sogar verdient hat?
    Habe ich jemals ernsthaft hinterfragt, warum er getan hat, was er getan hat? Ich habe es versucht, aber ich bin zu keinem Ergebnis gekommen. Erstmals kommt mir der Gedanke, dass ich Nachforschungen anstellen könnte, um seine Gründe herauszufinden. Dass ich sie nicht kenne, bedeutet nicht nur, dass ich ihm bei seinen Problemen nicht geholfen habe, sondern dass ich nicht einmal bemerkt habe, dass er welche hatte. Niemand hat es bemerkt, und deshalb müssen wir uns vielleicht alle bei ihm entschuldigen, aber ich war seine Schwester, ich war seine Vertraute, früher. Noch vor einem Jahr, glaube ich, bin ich das gewesen. Dann habe ich aufgehört, es zu sein, und es nicht einmal registriert.
    Ich knie vor dem Grab nieder und berühre die Erde zwischen den Blumen. Sie ist feucht, obwohl es in den letzten zwei Tagen nicht geregnet hat. Ein paar Ameisen laufen über das Grab, sie erklimmen die feuchtkrümeligen Erdbröckchen zwischen den Nelken, mittendurch wollen sie, obwohl es außenherum viel bequemer wäre. Ich wünsche ihnen, dass sie wissen, warum sie diesen beschwerlichen Weg gewählt haben, denn es wäre traurig, wenn sie es nur aus Dummheit getan hätten.
    Dann stehe ich ziemlich schnell wieder auf, weil es mir demütigend vorkommt, hier zu knien. Wenn man vor einem Grab kniet, bedeutet das immer etwas. Man kniet nicht dort, um die Erde anzufassen oder Ameisen zu beobachten. Wenn dich jemand vor einem Grab knien sieht, sieht er dich trauern, sieht er dich, wie du dich selbst aufgibst. Ich will nicht, dass mich jemand so wahrnimmt.
    Â»Wenn du noch da wärst«, sage ich, »dann würde ich nie wieder ein Wort mit dir sprechen.«
    Aber du bist nicht mehr da, also rede ich. Es ist absurd. Nur indem du tot bist, bringst du mich dazu. Zum Sprechen. Zum Denken. Dazu, mich mit dir zu befassen. Du machst mir ein schlechtes Gewissen, du bist nicht nur ein Mörder, sondern auch noch ein mieser Erpresser. Du willst, dass ich mich schuldig fühle, damit ich dir irgendwann verzeihen muss.
    Â»Ich werde dir nicht verzeihen«, sage ich. »Da kannst du warten, bis du komplett verfault bist.«
    Ich trete nach ein paar Nelken und hoffentlich auch nach den blöden Ameisen, die ich von hier oben allerdings nicht erkennen kann. Beim letzten Mal habe ich nicht getreten, da habe ich neben dem Stamm der Blutbuche gehockt und geheult. Es ist der Tag gewesen, an dem das Stigma erstmals sichtbar war, in Form der rötlichen Blätter.
    Das tote Mädchen hieß Katja. Ich kannte sie nicht. Sie war zwei Klassen unter mir. Ich habe ihr Foto in der Zeitung gesehen und versucht, mir ihr Gesicht auf dem Pausenhof vorzustellen, ich muss dort oft an ihr vorbeigelaufen sein, vielleicht habe ich sie sogar mal berührt. Vielleicht hat sie im Vorbeigehen

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