Nach dem Amok
Wort kommen lassen. Ich hätte es zugelassen, hat sie gesagt. Es einfach zugelassen, obwohl ich gewusst hätte, was passieren würde. Da habe ich verstanden, dass ihr Sandras Verleumdungen zu Ohren gekommen sein mussten. Warum ich nicht längst eingebuchtet sei, hat sie geschrien, ich hätte ja schlieÃlich alles mit ihm zusammen geplant. Mir war einen Moment lang schwarz vor Augen. Aus Sandras » nichts dagegen unternommen« ist einfach so »zusammen geplant« geworden, über Nacht, wie bei Stille Post. Ich wollte mich verteidigen, aber das hat alles nur noch schlimmer gemacht. Ich habe nicht gewusst, dass er das vorhat, habe ich gesagt, das ist ein Gerücht von jemandem, der mir schaden will. Du feige Sau!, hat sie geschrien. Du kriminelles Arschloch! Gib es wenigstens zu!
Noch niemals zuvor hat jemand solche Dinge zu mir gesagt, mir mit derartigen Worten seine Verachtung entgegengeschmettert. Jemand, der mich überhaupt nicht kennt, der vorher noch nie ein Wort mit mir gewechselt hat.
Sie schlägt immer noch um sich, ihre Freunde können sie kaum beruhigen.
»Du verschwindest jetzt besser«, sagt ein Mädchen, das ich ebenfalls nicht kenne.
Aber ich will nicht verschwinden. Ich will beweisen, dass ich von Davids Vorhaben nichts wusste.
»Warum glaubst du einfach alles, was du hörst? Du weiÃt doch gar nichts über mich.«
Ich rufe es in Richtung der gesamten Schülergruppe, die das heulende Mädchen in ihre Mitte genommen hat. Ein Junge löst sich aus dem Pulk, tritt direkt vor mich. Er ist maximal vierzehn Jahre alt, auch nicht wirklich gröÃer als ich, aber trotzdem schüchtert mich ein, dass er so dicht vor mir steht.
»Lass sie in Ruhe!«, zischt er. »Sonst sorge ich dafür, dass du das Maul hältst.«
Er drückt mir seine Faust unters Kinn. Ich sehe ihm in die Augen, darin ist es so unglaublich kalt. Ich habe ihn ein paar Mal auf dem Schulhof wahrgenommen, zusammen mit David, ich glaube, sie waren beide in der Theater-AG. Jetzt bohren sich seine Fingerknöchel in die weiche Stelle unter meinem Kinn. Er stöÃt mich weg, mit dieser Faust, es schnürt mir für einen Moment die Luft ab.
Ich versuche nicht mehr, mich zu rechtfertigen. Ich entferne mich von dem heulenden Mädchen und seinen Beschützern, bemühe mich, dabei nicht zu rennen. Sie hat ihre Freundin verloren. Es muss noch viel schlimmer für sie sein als für Jannik. Felix ist ja noch da. Felix kann noch sagen, dass er David hasst und mich nicht mehr sehen will. Das tote Mädchen ist nicht mehr da. Sie kann nichts mehr sagen, sie benötigt Freunde, die für sie sprechen. Und es ist so unglaublich schwer, für jemanden zu sprechen, in seinem Auftrag, in seinem Namen, wenn man selbst wie gelähmt ist. Da braucht man nicht auch noch eine Amokläufer-Schwester, die behauptet, keine Schuld zu tragen. So jemanden muss man einfach hassen, das ist ganz normal.
Einen Moment lang überlege ich, was passieren könnte, wenn ich ihren Erwartungen entspräche. Wenn ich sagen würde, ich hätte tatsächlich davon gewusst, David vielleicht sogar geholfen. Es würde nicht mehr viel ändern. Das, was um mich herum passiert, wäre dann kaum schlimmer, als es jetzt schon ist. Du verschwindest jetzt besser. Wie gut dieser Rat ist, wie logisch, denn genauso fühlt es sich ohnehin schon an. Als wäre ich tatsächlich am Verschwinden. Als löste sich alles, was ich einmal gewesen bin, allmählich auf.
»Was war da los?«, fragt Patrick, als ich an den Fahrradständern vorbeikomme, wo er herumsteht und in aller Ruhe sein Pausenbrot kaut.
Er muss die ganze Szene beobachtet haben, und er war nah genug dran, um alles zu hören. Trotzdem hat er nicht eingegriffen.
»Was soll ich eigentlich tun, was meinst du? Wie soll ich etwas beweisen, das sich nicht beweisen lässt? Wie soll ich solche Behauptungen entkräften, die einfach nicht widerlegt werden können?«
»Tja«, sagt er nur.
Es hört sich an wie: Das ist dein Problem, nicht meins.
Später am Tag laufe ich durch die Stadt, ohne bestimmtes Ziel. An manchen Orten sieht alles so einfach aus. Da gibt es gekippte Fenster, hinter denen Gelächter zu hören ist, oder ein Kind auf einem Spielplatz, das seiner Mutter in die Arme läuft, ohne irgendetwas zu hinterfragen. Es verschlägt mich immer weiter in die abgelegenen StraÃen auÃerhalb des
Weitere Kostenlose Bücher