Nach dem Amok
versehentlich meinen Arm gestreift, oder die Frau des Hausmeisters hat mir in der Pause beim Verkauf eines Schokobrötchens eine Münze als Wechselgeld gegeben, die sie zuvor von Katja entgegengenommen hat. Vielleicht haben Katja und ich uns im Vorraum der Toilette an den Waschbecken flüchtig über einen der Spiegel angesehen. Ich habe das Gesicht in der Zeitung so lange angeschaut, bis ich glaubte, nein, bis ich mir sicher war, sie zu kennen. Erst dann konnte ich die Zeitung weglegen. Den Artikel habe ich nicht gelesen.
Sie liegt weit entfernt, am anderen Ende des Friedhofs, das hat man ihrer Familie zugestanden. Aber der Friedhof ist nicht groÃ. Wenn man an seinem Grab steht, könnte man sich problemlos mit jemandem unterhalten, der an ihrem Grab steht, man müsste nur ein bisschen lauter rufen.
Plötzlich merke ich, dass ich die Seiten gewechselt habe. Ich habe mich von seinem Grab entfernt, stehe jetzt nah bei ihrem. So nah, wie man sich herantrauen kann, wenn man nicht dort gesehen werden will, so nah, dass man gerade noch unbemerkt weggehen könnte, wenn Besucher für sie kämen. Keine Nelken â das ist das Erste, was mir auffällt. Aber ein Meer von Blumen, viele verschiedene Sorten, neben den eingepflanzten überall frische Schnittblumen, zu bunten SträuÃen zusammengebunden. Es macht den Eindruck, als hätte sie jeden Tag mehrere Besucher. Ob das weinende Mädchen vom Schulhof sie regelmäÃig besucht? Zwischen den SträuÃen steckt Papier, und als ich die Augen etwas zusammenkneife, erkenne ich, dass es Zettel und Umschläge sind. Sie schreiben ihr Briefe. Wie gern würde ich die Worte an sie lesen. Wenn jetzt Nacht wäre, wenn ich keine Angst haben müsste, erwischt zu werden, würde ich hingehen und die Umschläge öffnen, die Papiere im Schein einer Taschenlampe auseinanderfalten. Ich würde mich dafür schämen, noch bevor ich das erste Wort gelesen hätte. Ich weiÃ, dass es etwas ist, was man niemals tun darf. Was vor allem ich niemals tun darf. Ich hätte das Gefühl, damit ihr Grab zu entweihen. Und ich könnte trotzdem nicht anders, dessen bin ich mir bewusst. Wenn ich sehen könnte, wie sehr sie auch nach ihrem Tod noch geliebt wird, wenn ich es in unmissverständlichen Worten vor Augen hätte, dann wäre das für mich Strafe und Vergebung in einem.
Vielleicht sollte ich David einen Brief schreiben.
Vielleicht sollte ich Katja einen Brief schreiben.
Oder beiden.
Ich werde mit dem Brief beginnen, der weniger wehtut.
Oder mit dem, der mehr wehtut, als Strafe.
Ich gehe zu Davids Grab zurück und nehme eine Nelke herunter, bringe sie zu Katja und lege sie zwischen die anderen Blumen. Katjas Blumenmeer soll vollständig sein, keine Sorte darf fehlen.
8
Nach der Sechsten warte ich am Ausgang des Schulhofs auf die beiden. Als sie mich sehen, sind ihre Blicke anders als die der anderen. Scheuer, beinahe verschämt. Irgendetwas haben wir gemeinsam, etwas unterscheidet uns von den anderen. Das Bewusstsein, ihn gut gekannt und nichts geahnt zu haben. Die zwei waren früher oft bei uns zu Hause. Irgendwann sind ihre Besuche seltener geworden, aber ich war davon ausgegangen, dass sie und David sich nun öfter drauÃen oder bei einem der anderen trafen. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Ich habe zu vieles angenommen, zu wenig hinterfragt.
»Hey«, sage ich. »Kann ich kurz mit euch reden?«
Sie bleiben nicht stehen, obwohl Toni einen Augenblick zögert. Doch Nick schubst ihn weiter.
»Nicht hier«, zischt Nick mir zu. »Wir treffen uns am Kiosk.«
Mit ein paar Metern Abstand folge ich ihnen bis zum Kiosk hinter der nächsten StraÃenecke. Ich komme mir vor wie in einem schlechten Spionagefilm. Als ich um die Ecke biege, warten sie bereits neben dem Zeitungsständer. Fehlt nur noch, dass sie sich hinter irgendetwas verschanzen. Oder darauf bestehen, dass wir einander beim Sprechen den Rücken zuwenden. Doch zum Glück ersparen sie mir weiteren Blödsinn.
»Was gibtâs denn?«, fragt Toni, als ich bei ihnen ankomme.
Als sie sich mit David anfreundeten, waren alle ungefähr elf oder zwölf Jahre alt. Toni trug seine Haare verwuschelt, jetzt experimentiert er schon seit Längerem mit Haargel und verschiedenen Farbtönen herum. Nick hatte eine Schwäche für schwarze Kleidung und philosophische Weltbetrachtungen, inzwischen philosophiert er
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