Nach dem Amok
müssen nicht miteinander schlafen«, sagt er etwas unwillig. »Also, nicht richtig, wenn du noch nicht so weit bist.«
Ich werde nie wieder so weit sein. Bis eben war mir das nicht bewusst, aber jetzt merke ich, dass die Berührungen des Jungen, den ich mehr liebe als alles andere auf der Welt, sich nie wieder so anfühlen werden wie früher. Der Gedanke, mit ihm zu schlafen, ist unerträglich. Es wäre, als wenn David dabei neben uns stehen und uns beobachten würde. Es wäre, als ob die Schuld, die ich zum Teil selbst empfinde, meinen gesamten Körper umhüllen würde wie eine harte Kruste, und Janniks Berührungen wären bloà ein merkwürdiges, unangenehmes Kratzen an einer Schale, das sich nur oberflächlich auf meine Haut überträgt.
»Gib mir noch ein bisschen Zeit«, sage ich und versuche, überzeugend zu klingen, so, als bräuchte ich wirklich nur noch das: ein wenig mehr Zeit, bis alles wieder so werden kann wie früher. Es muss mir gelungen sein, denn Janniks Gesichtszüge werden weicher und entspannter. Er küsst mich zuerst auf die Stirn, dann auf den Mund, beides sehr sanft und vorsichtig, so wie man jemanden küsst, der am Beginn einer Genesung steht, die zweifelsohne eintreten wird, die einfach nur Geduld braucht.
Wir legen uns wieder aufs Bett, und ich bitte ihn, die Musik anzumachen. Ich will die Fireflies hören, um die ich vorhin gebracht worden bin. Das ist der erste Schritt zur Normalität. Ich habe beschlossen, es wenigstens zu versuchen.
You would not believe your eyes, if ten million fireflies lit up the world as I fell asleep â¦
»Ich fahre morgen nach der Schule zu Felix«, erzählt er. »Freitags kann ich das wenigstens, ohne dass meine Eltern Stress machen wegen der Hausaufgaben.«
»Kann ich vielleicht mitkommen?«
Ich habe ihn das vorher erst ein einziges Mal gefragt. Damals hat er geantwortet, Felix lasse derzeit niemanden wirklich an sich ran, selbst ihn kaum, und würde bestimmt komplett dichtmachen, wenn noch jemand mitkäme. Er hat es nicht ausgesprochen, aber ich wusste, dass er Felix nicht zumuten wollte, jemandem zu begegnen, der ihn unweigerlich an die Tat erinnern würde. Mir war es recht, weil ich ohnehin Angst hatte, Felix zu sehen, mit seinen bewegungslosen Beinen, an denen David schuld ist. Aber jetzt will ich mein Bestes geben für ein Stück mehr Normalität. Dazu gehört auch, dass ich aufhöre, Felixâ Gegenwart zu meiden.
»Also, weiÃt du«, beginnt Jannik.
Leave my door open just a crack, âcause I feel like such an insomniac â¦
Er hält es für keine gute Idee, das merke ich sofort. Vielleicht muss ich ihn davon überzeugen, dass es eine gute Idee ist. Das kann ich, das kriege ich hin.
»Felix will dich nicht sehen«, fährt er fort, bevor ich etwas sagen kann. »Das hat er deutlich zum Ausdruck gebracht. Nicht bloà in den ersten Wochen, sondern generell. Er sagt, er will dich nie wiedersehen. Aber er meint das bestimmt nicht so, wie es sich jetzt anhört. Er ist halt total traumatisiert.«
Ich schlucke. Ich hätte nicht gedacht, dass Felix es so krass ausdrücken würde. Er hat früher nie etwas gegen mich gehabt. Neben Romy und Marc war er der Netteste in der Clique.
To ten million fireflies, Iâm weird âcause I hate goodbyes â¦
»Es tut mir leid«, sagt Jannik. »Vielleicht wird es länger dauern, aber ich bin mir sicher, dass er sich eines Tages â¦Â«
»Schon gut«, unterbreche ich ihn. »Ich verstehâs ja.«
âCause Iâd save a few and Iâd keep them in a jar â¦
»Das hat wirklich nichts mit dir persönlich zu tun.«
»Es ist okay.«
Because my dreams are bursting at the seams.
6
»Ich war ihre Freundin!«, schreit sie. »Du hast sie nicht mal gekannt!«
Ihre Mitschüler ziehen sie von mir weg. Gerade noch hat sie mit den Fäusten auf mich eingeschlagen, auf meine Schultern, meine Brust, völlig von Sinnen, und dabei hat sie wie verrückt geweint. Ich konnte mich nicht wehren, weil ich spürte, dass ich nicht das Recht dazu hatte. Das Schluchzen hat sie so sehr geschüttelt, dass ihre Schläge schnell zu einem kraftlosen Trommeln wurden. Ich war ein dünnes Trommelfell, das unter ihren Händen vibrierte. Ich wollte ihr sagen, dass ich das alles genauso schrecklich finde wie sie. Aber sie hat mich nicht zu
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