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Nach dem Amok

Titel: Nach dem Amok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myriam Keil
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mich aufmerksam an. Seine Augen liegen im Schatten seines Gesichts und wirken im gedämpften Licht der Küche sehr dunkel. Sie passen nicht zu seinem blonden Haar, wahrscheinlich sind sie in Wirklichkeit viel heller, als sie jetzt aussehen. Der Wirbel seiner Haare über der Stirn hingegen lässt sich ganz klar erkennen als das, was er ist. Würde man den Rest seines Gesichts abdecken und nur diesen Ausschnitt betrachten, dann wäre es der Haaransatz von David. Dieser fremde kleine Junge hat Davids Haaransatz. Alles ist schon einmal da gewesen und alles kehrt irgendwann, irgendwo wieder. Bis es von Neuem verschwindet. Der Junge wird älter werden und möglicherweise seine Haare kürzer tragen, dann wird eine solche Ähnlichkeit nicht mehr wahrnehmbar sein. Alles ist schon einmal da gewesen. Alles kehrt irgendwann wieder. Ein unschuldiger Wirbel. Oder die Erinnerung an eine grausame Tat, die man für eine kleine Weile vergessen hatte.

7
    Es sind jedes Mal Nelken. Rote und pinkfarbene Blütenblätter, die an den Rändern zerfasern, als wollten sie sich eine Option offenhalten. Sie wirken wie etwas Unfertiges, zu früh Aufgegebenes.
    Nelken sind seine Lieblingsblumen, sagt sie manchmal. Der Satz stimmt nicht. Nelken waren seine Lieblingsblumen, muss es heißen. Und außerdem waren es nicht seine Lieblingsblumen. Es sind ihre. An dieser Stelle, an diesem Satz läuft immer alles auseinander, Gegenwart und Vergangenheit, mein und sein, wie man es auch dreht und wendet.
    Ich hebe den Kopf, als ich Schritte höre, Stimmen. Ich entferne mich vom Grab, denn ich will nicht, dass mich jemand hier sieht, mich mit dem Grab in Verbindung bringt, mit dem Namen auf dem Grabstein. Unter meinen Schuhen knirscht der Kies. Die Stimmen kenne ich nicht. Sie gehen vorbei und bleiben ein paar Gräber weiter stehen. Eine Frau und ein Mann, beide um die fünfzig. Die Frau bückt sich, erneuert das Grablicht, beginnt mit dem Einpflanzen einiger Blumen. Der Mann hält sich unterdessen an einem mitgebrachten Rechen fest, er lässt ihn nicht los, lehnt ihn nirgendwo an. Die Frau nimmt sich viel Zeit für die Pflanzerei, spricht dabei in Richtung des Grabes, ich kann ihre Worte nicht verstehen und weiß nicht, ob sie zu dem Mann spricht oder zu der Person unter der Erde. Der Mann antwortet jedenfalls nicht. Er steht einfach nur da, auf den Rechen gestützt wie auf einen Stock.
    Ich selbst warte vor irgendeinem fremden Grab am Ende der Reihe und tue so, als gehöre ich dorthin. Ich will den Friedhof noch nicht verlassen, ich habe noch nicht alles gesagt. In dem Grab, vor dem ich jetzt stehe, liegt eine Helga Trautwein. Sie ist fast neunzig Jahre alt geworden und schon vor über zehn Jahren gestorben, aber sie hat Angehörige, die sich noch immer um sie kümmern, dafür sprechen die frischen Blumen. Jetzt, zu Frühjahrsbeginn, werden auf fast allen Gräbern ohne Grabplatte frische Blumen gepflanzt. Helga Trautwein mochte Stiefmütterchen. Oder derjenige, der ihr Grab pflegt, mag Stiefmütterchen. Vielleicht weiß längst niemand mehr, was Helga Trautwein eigentlich mochte. Es gibt Firmen, die Grabpflege anbieten, man kann das Resultat ihrer Arbeit kaum von dem fürsorglicher Angehöriger unterscheiden. Vielleicht hat irgendjemand in einer Grabpflegefirma beschlossen, dass Helga Trautwein Stiefmütterchen zu mögen hat.
    Die Frau hat aufgehört zu reden. Als ich zu den beiden hinübersehe, stehen sie reglos vor den frisch gepflanzten Blumen und starren sie an. Oder das, was darunterliegt. Die Frau stützt sich auf den Arm des Mannes, der Mann stützt sich noch immer auf den Rechen. Das Gartengerät scheint das Einzige zu sein, was die beiden aufrecht hält.
    Es dauert nicht lange, dann wenden sie sich wie auf ein geheimes Zeichen hin ab und gehen.
    Ich krame in meiner Jackentasche nach einer Visitenkarte. Es ist eine aus dem zweiten Satz Karten, den ich habe drucken lassen. Ich nehme beim Druck die günstigste Variante. Bei der Gestaltung gibt es dann nicht viele Auswahlmöglichkeiten, aber das macht nichts. Dieses Mal habe ich mich für das braune Wellenmuster einer Sandbank entschieden. Beim ersten Mal war das Design abstrakt, ein angedeutetes rotes Dreieck und ein gelber Kreis auf weißem Grund. Beim ersten Mal war ich Architektin. Die Sandbank hingegen passte besser zu einer Fotografin. Ich denke, ich werde noch ein paar Kartensätze drucken

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