Nach dem Amok
sagt Toni. »Du, wir glauben das natürlich nicht. Aber wir wollen da auch nicht mit reingezogen werden, das musst du verstehen.«
»Deshalb also die Heimlichtuerei hier mit dem Kiosk?«
Nicks Schuhspitzen wecken nun auch Tonis Interesse. Erstaunlicherweise schaut er nicht auf seine eigenen.
»Ich will herausfinden, warum David das getan hat. Auch, um die Vorwürfe gegen mich zu entkräften.«
»Aber es ist doch nicht an dir, etwas zu beweisen.« Tonis Stimme ist beinahe fürsorglich. »Die anderen müssen beweisen, dass du was gewusst hast. Niemand kann dir was anhängen ohne Beweise.«
»Wie blöd bist du eigentlich!«, schnaubt Nick in seine Richtung. »Werd endlich erwachsen!«
Dann schauen wir uns alle noch eine Weile ratlos an und verabschieden uns schlieÃlich mit halbherzig genuschelten Worten. Als ich mich an der Ecke noch einmal umdrehe, kauft Toni am Kiosk gerade Saure Pommes und Gummiwürmer, die er sich wie die Unterstufler aus den Fruchtgummi-Behältern aussucht und in ein Papiertütchen packen lässt. Werd endlich erwachsen, denke ich. Und gleich darauf: Warum eigentlich? Wobei sollte es dir helfen?
Zu Hause schleiche ich mich in Davids Zimmer. Es ist abgeschlossen, aber ich weiÃ, wo der Schlüssel liegt. Ich vergewissere mich, dass niemand in der Nähe ist. Papa ist noch nicht von der Arbeit nach Hause gekommen. Aus der Küche tönt das Radio, ich höre die ersten Vorbereitungen meiner Mutter für das Abendessen. Vielleicht hätte ich warten sollen, bis ich mal ganz allein in der Wohnung bin, aber ich kann nicht warten. Ich muss endlich etwas unternehmen, um hinter die Gründe für Davids Tat zu kommen. Ich sperre sein Zimmer auf, ziehe den Schlüssel dann aus dem Schloss heraus, damit man ihn nicht auÃen stecken sieht, und betrete den Raum. Die Tür drücke ich hinter mir zu und stecke den Schlüssel von innen ins Schloss, ohne abzuschlieÃen. Sie haben in seinem Zimmer nichts verändert, es sieht aus, als sei er gerade mal kurz weggegangen und könne jederzeit wiederkommen. Das Bett ist nicht ordentlich gemacht, das Kissen nur notdürftig aufgeschüttelt, die Decke zurückgeschlagen. Die Poster an den Wänden. Seine getragenen Socken auf dem Boden. Ein Pulli, über die Lehne des Schreibtischstuhls geworfen. Nachdem die Polizei den Raum durchsucht hatte, hat Mama alles wieder genauso angeordnet, wie David es hinterlassen hatte. Vor der Durchsuchung hat sie sich jedes Detail des Zimmers eingeprägt, um es hinterher wieder so herrichten zu können, wie es war. Damals hat mir das Angst gemacht und ich habe es nicht verstanden. Inzwischen kann ich es nachvollziehen, aber Angst macht es mir immer noch.
Ich habe keine Ahnung, wonach ich suchen soll. Die Polizei hat doch schon alles umgekrempelt. Ich gehe zum Bücherregal, ziehe jedes Buch heraus, lese die Titel, blättere nach versteckten Botschaften, taste hinter den Büchern im Regal herum. Keine versteckten Hinweise, nichts. Im Papierkorb liegen einige zerknüllte Blätter. Ich vermute, dass die Polizisten sie sich angesehen und für nicht wichtig erachtet haben, sonst hätten sie das Zeug ja einkassiert. Ich nehme eines der Blätter heraus und streiche es glatt. Darauf ist eine begonnene Stoffsammlung für einen Aufsatz, die irgendwann abreiÃt und in gekritzelte Linien und angedeutete Strichmännchen übergeht. Das erinnert mich ein bisschen an Charlottes Quadrate. Mit den Fingerspitzen berühre ich die Schrift auf dem Blatt. Mich überkommt eine regelrechte Zärtlichkeit, als ich die Buchstaben berühre und an die selbst gebastelten, mit krakeliger Handschrift beschriebenen Geburtstagskarten denke, die er mir, als wir noch Kinder waren, jedes Jahr geschenkt hat. Sogar bei dieser sachlichen Stoffsammlung bewegt es mich: die Führung der Linien, dieses unmittelbar aus der Bewegung seiner Hand Hervorgegangene. Gleich darauf aber denke ich an die Bewegung seiner Finger am Abzug der Waffe. Angewidert stopfe ich das Papier zurück in den Müll. Warum hat alles, was von ihm geblieben ist, jetzt diese zwei Seiten? Warum kann nichts einfach nur richtig und gut sein? Alles, was er hinterlassen hat, jede Spur, jede Erinnerung, ist wie verseucht.
Als ich gerade dabei bin, den Bereich unter dem Bett zu inspizieren, nähern sich Schritte. Vor Schreck stoÃe ich mir den Kopf.
»Maike, wo bist du?«, höre
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