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Nach dem Amok

Titel: Nach dem Amok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myriam Keil
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höchstens noch über den Sinn von Klassenarbeiten und widmet sich ansonsten intensiv den Mädchen in seiner Stufe. Wie David damals ausgesehen hat, weiß ich nicht mehr, er hat sich schleichend verändert, über die Jahre hinweg im Zimmer neben mir. Wenn ich mir sein Aussehen in Erinnerung rufe, blitzt in meinem Kopf immer das letzte Bild auf, das ich von ihm habe, sein fünfzehnjähriges Äußeres, etwas Früheres sehe ich nicht. Manchmal nehme ich mir die alten Fotoalben vor, doch alles darin scheinen fremde Erinnerungen zu sein. Sein letztes Gesicht verdrängt die früheren, sobald ich das jeweilige Album zuschlage.
    Nick tritt nervös von einem Fuß auf den anderen und ich beeile mich zu antworten.
    Â»Ich würde euch gern etwas fragen. Also, ob David euch irgendwas erzählt hat. Warum es ihm schlecht ging. Er hat daheim nicht darüber gesprochen.«
    Â»Nee«, meint Nick. »Mit uns hat der auch nicht mehr geredet.«
    Â»Stimmt nicht«, sagt Toni. »Er hat’s mal versucht. Er hatte vor irgendjemandem Angst, aber er wollte nicht sagen, vor wem.«
    Â»Ach, das war doch nichts Besonderes«, wiegelt Nick ab.
    Â»Klar«, entfährt es mir, »nichts Besonderes. Deshalb hat er sich auch eine Pistole besorgt und die halbe Schule …«
    Ich kann nicht weitersprechen. Ich begreife nicht, wie sie ihn damit allein lassen konnten.
    Nick schaut verlegen auf seine Schuhspitzen.
    Â»Warum habt ihr denn nicht darauf bestanden, dass er sagt, was los ist?«, frage ich, als das Sprechen wieder funktioniert.
    Â»Wir konnten ihn ja schlecht zwingen, den Mund aufzumachen«, verteidigt sich Toni. »Und überhaupt, was regst du dich denn auf, du hast doch auch nichts gemerkt!«
    Â»Ich hatte überhaupt keine Anhaltspunkte. Wenn ich gewusst hätte, dass jemand ihm Angst machte, dann hätte ich nicht lockergelassen, bis er gesagt hätte, was Sache ist!«
    Eine Weile sehen wir uns einfach nur an. Ich weiß, dass ich kein Recht habe, ihnen Vorwürfe zu machen. Ich als seine Schwester hätte Davids Angst spüren müssen. Aber selbst wenn David mir gegenüber etwas angedeutet hätte, wäre ich dann wirklich hartnäckig geblieben, bis er Details preisgegeben hätte? Ich kann diese Frage nicht guten Gewissens mit einem Ja beantworten. Die Wahrheit ist, dass ich es nicht weiß. Meine Schuldzuweisungen gegenüber Nick und Toni sind genauso ungerecht wie die gegen mich gerichteten Vorwürfe meiner Mitschüler.
    Â»Tut mir leid«, sage ich mit einiger Überwindung zu den beiden. »Ich weiß, dass ihr ihn nicht absichtlich im Stich gelassen habt. Ich will doch nur verstehen, warum das alles passiert ist.«
    Aber im selben Moment, als ich das sage, weiß ich schon, dass ich es nicht verstehen würde. Kein Grund der Welt kann mir begreiflich machen, warum die Lösung ausgerechnet die sein musste, die David gewählt hat. Es hätte andere Lösungen gegeben. Sich jemandem anvertrauen. Mit seiner Familie, mit seinen Freunden reden, anstatt sich von allen zu distanzieren. Zur Polizei gehen. Im schlimmsten Fall ein Selbstmord, ein klarer Schnitt und ein Abschiedsbrief: Ich kann nicht mehr, ich mache Schluss, es tut mir leid, Euch trifft keine Schuld, ich liebe Euch. Das wäre zwar auch der falsche Weg gewesen, aber zumindest eine Entscheidung, die ich versucht hätte zu akzeptieren. Doch dass er sich entschieden hat, so viele Menschen ins Unglück zu stürzen, Unschuldige mit sich in den Abgrund zu reißen, das kann ich nicht begreifen. So unendlich viele andere Lösungen hätte es gegeben.
    Â»Schon okay«, sagt Nick.
    Â»Wir würden es auch gern verstehen«, murmelt Toni.
    Â»Kapiert ja kein normaler Mensch, warum man so austicken muss«, bekräftigt Nick. »Also, nicht, dass David nicht normal gewesen wäre …«
    Er richtet den Blick wieder auf seine Schuhspitzen. Es ist aber auch sehr schwer, über die Sache zu reden, ohne in irgendwelche Fettnäpfchen zu tappen. Ich versuche zu lächeln, aber mir ist nach Heulen zumute.
    Â»Wenn wir dir irgendwie helfen können, was rauszufinden, dann sag uns Bescheid«, bietet Nick an, doch ich habe den Eindruck, dass er das nur sagt, weil ihm seine Bemerkung von eben unangenehm ist.
    Â»Es ist so«, offenbare ich ihnen, »dass in der Schule Dinge über mich erzählt werden, die nicht stimmen.«
    Â»Wissen wir«,

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