Nach dem Amok
taucht vor mir auf, er sieht besorgt aus, sogar verunsichert. Ein verunsicherter Psychologe. Ich dachte immer, diese Spezies könnte nichts erschüttern, und jetzt macht er einen geradezu entsetzten Eindruck, weil ich vor ihm sitze und heule und er sich darauf keinen Reim machen kann. Fast tut er mir leid. Wenn es mir nicht so beschissen ginge.
»Was ist passiert?«
»Lassen Sie mich in Ruhe!«
Eigentlich will ich es ihm entgegenschreien, aber mir gelingt nur ein etwas lauteres Flüstern.
»Maike, beschreibe mir bitte, was passiert ist. Auch wenn eine Ãbung für dich nicht funktioniert, kann es helfen, über das Erlebte zu sprechen. Damit deckt man die Ursachen von Problemen auf. Ehrlich, manchmal kann eine gescheiterte Ãbung sogar hilfreicher sein als eine geglückte.«
Er ist noch hartnäckiger als die Marberg. Das ist sein Job. Sein verdammter Job. Wie soll mir jemand helfen, dem es gar nicht um mich geht, sondern nur um das Abarbeiten seiner ausgeklügelten Schemata?
»Nein«, sage ich.
Mehr bin ich ihm nicht schuldig, finde ich. Ich nehme meine Tasche, die neben dem Stuhl steht, und laufe aus dem Zimmer. Der nächste Patient ist noch nicht da, meine Sitzung hätte planmäÃig noch eine gute Viertelstunde länger gedauert. An der Garderobe greife ich nach meiner Jacke. Holtmann ist mir gefolgt, redet mit Engelszungen auf mich ein. Ich ignoriere ihn. Er faselt etwas davon, dass es sinnvoll wäre, meine Eltern zur nächsten Sitzung dazu zu holen, und als ich endlich unten auf der StraÃe stehe, muss ich lachen, ganz hysterisch lachen, weil sich alles auf so bescheuerte Art und Weise wiederholt, das EinschlieÃen in Räume, um eine Gefahr drauÃen zu halten, das Erfordernis eines Elterngesprächs, und täglich grüÃt das Murmeltier, mal sieht es aus wie die Marberg, mal wie der Holtmann, mal trägt es beige Kostüme, dann wieder zeigt es seine Familienfotos nur von hinten.
Auf dem Heimweg, der mich durch die FuÃgängerzone führt, begegne ich Sandra. Sie hat eine Freundin dabei, die ich nicht näher kenne. Um nicht mit Sandra reden zu müssen, verstecke ich mich vor ihr. Plötzlich stehe ich in irgendeinem Laden, spähe durch das Schaufenster nach drauÃen und hoffe, dass sie mich nicht gesehen hat. Als ich bemerke, was ich da tue, ärgere ich mich über meine eigene Feigheit. Das Geschäft, in das ich mich verkrochen habe, ist ein Reisebüro, aber das wird mir erst bewusst, als mich eine Frau anspricht: Was sie für mich tun könne. Ich weià nicht sofort eine Antwort; das ist einerseits unangenehm, andererseits verschafft es mir Zeit, die ich hier verbringen kann, während Sandra und ihre Eskorte sich trödelig durch die FuÃgängerzone bewegen. Jetzt bleiben sie auch noch stehen, ausgerechnet vor dem Laden nebenan, einem Schuhgeschäft, soweit ich mich erinnere. Die Reisebürofrau schaut mich ungeduldig an.
»Ich möchte mich über Städtereisen informieren. London oder Paris.«
Vermutlich ist es das Wort informieren , das sie einen leisen Seufzer ausstoÃen lässt. Jemand, der sich informieren will, will selten buchen, und wenn er dann irgendwann doch bucht, tut er das oft in einem anderen Reisebüro oder übers Internet. Möglicherweise ist es auch das oder . London oder Paris. Eine, die noch nicht mal weiÃ, wohin sie will.
Sie deutet wortlos auf einen Stuhl, verzieht sich hinter ihren Computer und fängt an zu tippen. Ich setze mich, der Stuhl steht ihrem Arbeitsplatz gegenüber, zwischen uns der Schreibtisch, dieselbe Ausgangsposition wie beim Holtmann, bevor er seinen Stuhl hinter dem Schreibtisch vorzieht, um Barrieren abzubauen. Die Reisebürofrau hingegen mag Barrieren zum Kunden, das sieht man ihr an. Sie ist allein im Geschäft und ich bin die einzige Kundin. Immer wieder unterbricht sie ihre Tipperei, um mir Fragen zu stellen, die meine Wünsche näher eingrenzen sollen. Ich denke mir Reiserouten aus. Ich bin mit Fähren unterwegs und fliege in Flugzeugen. Preislich bleibe ich in einem glaubwürdigen Segment, sie soll ja nicht misstrauisch werden, obwohl ich am liebsten sagen würde, dass ich in einem 5-Sterne-Hotel residieren möchte, denn wann hat man schon mal die Gelegenheit, so etwas anzugeben, oder besser, wann nimmt man diese Gelegenheit wahr â höchstens doch dann, wenn man im Lotto gewonnen hat. Oder wenn man in
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