Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nach dem Amok

Titel: Nach dem Amok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myriam Keil
Vom Netzwerk:
Blick, der eben noch sehr bestimmt und beinahe wütend gewesen ist, wird augenblicklich sanfter. Sie beginnt, an ihrem Kuli herumzuschrauben, das Innenleben kommt zum Vorschein. Ich muss an das Ausnehmen eines Fisches denken, obwohl ich so etwas nie mit angesehen habe.
    Â»Du möchtest sie nicht auch noch mit deinen Problemen belasten. Das ist nachvollziehbar. Aber Maike, es ist trotzdem der falsche Weg.«
    Â»Ich weiß keinen besseren. Sie vielleicht? Nur zu, bestellen Sie meine Eltern her! Dann wird meine Mutter völlig zusammenbrechen. Sie geht nicht mal mehr auf den Markt, weil sie dort von den Leuten zur Schnecke gemacht worden ist. Es ist wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis sie überhaupt nicht mehr das Haus verlässt. Aber bitte, wenn Sie ihr gleich den Rest geben wollen, dann machen Sie nur! Darauf kommt es jetzt wahrscheinlich auch schon nicht mehr an.«
    Ich muss Luft holen, obwohl ich nichts weiter zu sagen habe, wofür ich den Atem bräuchte. In meinem Hals sitzt ein Kloß, der kaum noch Sauerstoff durchlässt. Mir wird schwindelig, der Geruch im Klassensaal ist staubig und verbraucht.
    Â»Komm, setz dich, du bist ja ganz blass.«
    Ich leiste keinen Widerstand, als die Marberg mir den Stuhl vom Pult in die Kniekehlen schiebt. Ich falle einfach nach unten, auf die Sitzfläche. Es macht ein Geräusch wie ein hingeworfener Kartoffelsack.
    Â»Also schön«, sagt sie. »Ich denke, wir können noch ein paar Tage abwarten. Aber wenn sich die Situation nicht bessert, müssen wir uns alle zusammensetzen.«
    Den Kuli hat sie inzwischen in seine Bestandteile zerlegt. Jetzt ordnet sie die einzelnen Elemente nebeneinander auf dem Pult an: Vorderteil, Hinterteil, den kleinen Metallring dazwischen, die Feder, die Mine. Das Teil zum Draufdrücken, das die Mine nach vorne befördert, zerfällt noch mal in zwei Einzelteile, als sie es auf der Tischplatte herumschiebt. Ich überlege, ob dieses Zerlegen genauso unbewusst passiert wie Charlottes Karomalerei. Die Marberg scheint es jedenfalls nicht zu registrieren.
    Â»Geht es wieder oder soll ich dich ins Krankenzimmer bringen?«
    Das Krankenzimmer. Der kahle Raum, der direkt neben dem Sekretariat liegt. Einmal bin ich dort gewesen, vor über einem Jahr, ich hatte mir beim Sport eine Prellung zugezogen. Im Krankenzimmer gibt es: gelbe Wände, eine Liege, einen Verbandskasten, einen Heizkörper, eine Neonröhre an der Decke. Das ist alles. Der Raum hat nicht einmal ein Fenster. Ich habe mir damals vorgenommen, nie wieder dorthin zu müssen. Der Raum macht einen kränker, als man ist. Also schüttele ich den Kopf. Nein, ich will nicht ins Krankenzimmer gebracht werden.
    Ich erhebe mich vom Stuhl, der jetzt ganz eigenartig aussieht, weil er neben dem Pult steht und nicht dahinter, wie sonst immer. Ich möchte das nicht. Ich möchte nicht, dass so viele Dinge, an die ich gewöhnt war, auf einmal so merkwürdig verstörend sind.
    Â»Kopf hoch, Kind«, sagt die Marberg. »Du hast gewusst, dass es nicht leicht werden würde, als du dich entschieden hast, weiterhin auf diese Schule zu gehen. Ich fand das sehr mutig von dir. Ich hatte gehofft, dass dir solch eine Gerüchteküche erspart bleiben würde. Es fing so gut an, alle wollten dich unterstützen.«
    Sie macht den Eindruck, als wolle sie mich am liebsten in den Arm nehmen. Ich trete einen Schritt zurück, bevor sie dazu verleitet wird, es tatsächlich zu tun.
    Â»Es wird schon werden«, sage ich.
    Ein Satz, wie ihn Erwachsene gern benutzen. Die Marberg lächelt. Der Satz hat irgendwo angedockt und etwas bei ihr ausgelöst. Sie vertraut mir wieder. Sie vertraut meiner Fähigkeit, der Situation mit angemessener Reife zu begegnen.
    Wir verabschieden uns voneinander. Sie mustert etwas irritiert den Kugelschreiber-Salat auf ihrem Pult. An der Tür drehe ich mich kurz um und sehe, wie sie ohne jeden Plan versucht, das Schreibgerät wieder zusammenzusetzen. Das Ding zum Draufdrücken schiebt sie falsch herum in das hintere Element hinein, als könne sie seinen Zweck nicht erkennen, wenn es für sich allein ist und nicht ein Teil eines Ganzen.

10
    Â»Wir machen jetzt eine Übung. Sie heißt Der sichere Ort .«
    Auf dem Schreibtisch steht ein gerahmtes Foto, es ist von mir weggedreht, sodass nur derjenige das Motiv sehen kann, der am Schreibtisch sitzt. Obwohl ich schon öfter hier gewesen bin, habe

Weitere Kostenlose Bücher