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Nach dem Amok

Titel: Nach dem Amok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myriam Keil
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habe, es waren zweieinhalb dicht beschriebene Seiten, und ich könnte mich ohrfeigen, dass ich den Umschlag bereits daheim zugeklebt habe.
    Liebe Katja, beginnt mein Brief, ich kenne dich nicht und du mich auch nicht. Ich heiße Maike und gehe in die 10b an der Schule, auf die du auch gegangen bist. Es kommt dir vielleicht seltsam vor, dass dir jemand schreibt, den du nicht kennst. Ich habe die vielen Briefe auf deinem Grab gesehen, und die kommen sicher alle von Menschen, die dir nah gestanden haben. Weißt du, ich schreibe dir, weil ich Davids Schwester bin und David dir nicht mehr schreiben kann. Er hat dich (hier habe ich lange überlegt und mich letzten Endes dafür entschieden, es so zu sagen, wie es ist) erschossen, und dann sich selbst. Er ist sonst nie jemand gewesen, der Leuten wehtun wollte. Ich bin mir nicht mal sicher, ob er an diesem Tag jemandem wehtun wollte. Ich glaube, er hat einfach nichts mehr gefühlt, und er konnte deshalb auch nicht mehr fühlen, was er dir antat. Das soll keine Entschuldigung sein für das, was passiert ist.
    Ab dieser Stelle kann ich mich an weite Strecken des Briefes nur noch bruchstückhaft erinnern. Ich habe von dem Knallen geschrieben und wie Reinhardt den Saal von innen zugesperrt hat, von den Stunden danach und wie ich sie erlebt habe. Ich habe Katja sogar von der Bergwiese bei Holtmann erzählt, vielleicht ist sie ja jetzt auch an so einem sicheren Ort, aber an einem, der wirklich sicher ist.
    Plötzlich höre ich irgendwo hinter mir ein Knacken. Das ist nichts Ungewöhnliches, die ganze Zeit über hat es mal hier, mal dort geraschelt oder leise geknackt, immerhin stehen auf einem Friedhof jede Menge Bäume und Sträucher, und da gibt es naturgemäß auch Mäuse oder andere kleine Tiere, die sich im Gestrüpp herumtreiben. Daher habe ich versucht, die Geräusche auszublenden, was mir auch ganz gut gelungen ist. Bei diesem Knacken allerdings gelingt mir das nicht mehr, es ist einfach zu laut, eine Maus kann es nicht verursacht haben. Ich leuchte mit der Taschenlampe in die Richtung, aus der es gekommen ist. Eigentlich halte ich mich nicht für besonders ängstlich; ich weiß, dass viele meiner Mitschüler sich niemals, unter keinen Umständen nachts allein auf einem Friedhof herumtreiben würden, nicht einmal dann, wenn man ihnen dafür Geld geben würde. Aber jetzt merke ich, dass ich mehr Angst habe, als ich mir selbst eingestehen wollte. Mein dringender Wunsch, einen der Briefe zu lesen, hat mich davon abgelenkt. Nun aber schlägt die Furcht voll und ganz zu: Meine Schultern zittern, mir ist übel, mein Herz klopft viel zu schnell. Alles blöde körperliche Auswirkungen, die überhaupt nichts bringen und sich trotzdem nicht beherrschen lassen. Dazu das Gefühl, jemand stünde direkt hinter mir und inmitten der Schatten gäbe es schnelle Bewegungen, wo keine sein dürften. Nicht zu vergessen dieses laute Knacken von eben, für das der Lichtkegel der Taschenlampe bisher noch keine Ursache finden konnte.
    Â»Hey«, rufe ich, »ist da jemand?«
    Das bereue ich sofort, denn dieser wenig geistreiche Satz fällt ja auch in Horrorfilmen immer, kurz bevor etwas Schlimmes passiert. Mein Rufen und der Lichtkegel der Taschenlampe machen mich angreifbar. Wenn das Knacken von einem Menschen stammt, ist es das Beste, wenn ich das Licht ausmache. Wenn es von einem Tier kam, dann hoffentlich von einem, das sich nicht für mich interessiert. Wenn es von einem Wesen, einem Untoten, einem Geist … Reiß dich zusammen, Maike, du bist doch kein Baby mehr!
    Ich knipse die Taschenlampe aus und bleibe reglos stehen, für einige Minuten, die mir wie eine Ewigkeit vorkommen. Mehrmals bin ich kurz davor, die Lampe wieder einzuschalten. Ich höre überall Geräusche, nur dort nicht, wohin ich meine Aufmerksamkeit richte, dort, von wo vorhin das laute Knacken kam. Doch angesichts der Dunkelheit um mich herum werde ich allmählich immer unsicherer, ob ich seinen Ursprung überhaupt noch richtig verorte. Nachdem ich eine Zeitspanne abgewartet habe, die ich für etwa fünf Minuten halte, und nichts Ungewöhnliches geschehen ist (abgesehen von den allgegenwärtigen, durch Kleintiere erklärbaren Geräuschen), knipse ich die Taschenlampe wieder an und tue das, was ich mir in der Zwischenzeit überlegt habe: So schnell ich kann und ohne mich noch einmal umzusehen, renne ich zu Davids

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