Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nach dem Amok

Titel: Nach dem Amok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myriam Keil
Vom Netzwerk:
ich das Foto noch nie betrachten können. Die andere Seite des Schreibtisches ist nicht für meine Blicke bestimmt. Ich habe mir oft vorgestellt, was auf dem Foto zu sehen sein könnte. Ich bin überzeugt, dass darauf eine Frau ist, ein Kind oder beides. Vielleicht ist sogar Holtmann mit auf dem Foto. Vielleicht sind es zwei Kinder. Eine Frau mit verständnisvollem Lächeln und zwei Kinder mit dunklem Haar, so lockig wie das Haar von Holtmann.
    Holtmann hat seinen Stuhl vor den Schreibtisch gestellt und sitzt mir unmittelbar gegenüber, unsere Fußspitzen berühren sich fast. Er will den Verzicht auf jegliche optische Barriere zwischen uns, damit die sonstigen, die unsichtbaren Barrieren nicht unnötig vergrößert werden. So hat er es erklärt, damals, bei der allerersten Sitzung.
    Â»Mach die Augen zu, Maike.«
    Ich schließe gehorsam die Augen, obwohl ich mich dabei nie wohlfühle, weil es mir dann immer so vorkommt, als würde Holtmann mich intensiv beobachten. Eigentlich weiß ich, dass er das nicht tut, denn er schließt dann ebenfalls die Augen, um es mir leichter zu machen, er kennt solche Befürchtungen bei seinen Patienten. Wenn ich hin und wieder blinzle, hat er die Augen stets geschlossen. Trotzdem komme ich nicht gegen das ungute Empfinden an, beobachtet zu werden, möglicherweise ist es ein Beobachten von innen heraus.
    Â»Stell dir jetzt einen Ort vor, an dem du dich sehr wohl fühlst. Es kann ein realer Ort sein oder ein ausgedachter. Du sollst dich dort einfach nur sicher fühlen.«
    Â»Irgendwas mit Natur?«
    Â»Zum Beispiel. Maike, hör auf dein Herz. Wo fühlst du dich gut aufgehoben?«
    Â»Irgendwo hoch oben.«
    Â»Gut. Und jetzt nicht mehr reden. Stell dir vor, dass du dich an diesem Ort befindest und sag mir, wenn du so weit bist.«
    Eine Berglandschaft. Auf dem höchsten Berg ganz oben: ein flacher Abschluss, wie eine Plattform. Die Fläche ist mit hohem Gras bedeckt. Es ist nicht sehr realistisch, schätze ich. Ein Berg, der oben eine fast völlig geebnete Wiese als Abschluss hat, die etwa vierzig Quadratmeter groß ist. Ich liege im hohen Gras, sehe durch die Halme den Himmel (blau), die Sonne (Vorabendsonne), zwischen den Halmen sind Blumen (roter Mohn). Ich habe nicht gewusst, dass ich so etwas als den sichersten Ort der Welt empfinden würde. Aber er ist es. Der Berg kann nicht bestiegen werden, hier sind keine anderen Menschen, man könnte ihn höchstens mit einem Hubschrauber erreichen. Wie bin ich hier hochgekommen? Egal. Ich bin hier. Nach den vielen Übungen, die Holtmann schon mit mir versucht hat, scheint das die erste zu sein, die wirklich funktioniert.
    Â»Ich bin so weit. Was soll ich jetzt tun?«
    Â»Einfach dort bleiben. In den nächsten Minuten ruhst du dich an diesem Ort aus. Das kannst du auch jederzeit zu Hause machen. Oder in der Schule. In jeder Situation kannst du dir deinen sicheren Ort vorstellen und dich an ihm ausruhen.«
    Ich liege auf meiner surrealen Bergwiese. Niemand kann sie erreichen, niemand kann mich beobachten im Schutz der Halme. Die Sonne ist warm, der Wind ebenfalls. Die Luft riecht nach Freiheit. Ich setze mich im Gras auf, weil ich die weite Landschaft auf mich wirken lassen will, und betrachte die umliegenden Berge. Es kommt mir vor, als seien sie etwas näher gerückt, seit ich damit begonnen habe, sie mir vorzustellen. Meine Wiese sieht ebenfalls anders aus als der ursprüngliche Entwurf, sie ist auf etwa die halbe Größe geschrumpft. Egal, es ist ja meine Vorstellung, und ich kann meine Wiese wieder vergrößern und meine Berge versetzen, wie auch immer ich das möchte. Diese Überlegung macht mich sogar ein bisschen fröhlich. Bis ich es versuche. Ich versuche es wirklich, aber ich kann tun, was ich will, die Landschaft weitet sich nicht mehr und die Wiese schrumpft sogar noch weiter. Der Rand des Berges kommt meinen Füßen immer näher, bis ich in den Abgrund sehen kann, das Gestein fällt steil vor mir ab und gibt den Blick frei auf noch mehr Gestein, weit unten. Keine Talkessel mit grünen Wäldern, überall nur graue sinnlose Felsbrocken, scharfkantiges Geröll, nichts Lebendiges.
    Â»Maike, ist alles in Ordnung?«
    Holtmanns Stimme dringt aus großer Entfernung an mein Ohr. Ich spüre Tränen über mein Gesicht laufen. Er hat mich also doch beobachtet, während ich die Augen zuhatte! Sein Gesicht

Weitere Kostenlose Bücher