Nach dem Amok
aufrecht, Gesicht nach vorn, und ohne ein erkennbares Zeichen von Schwäche.
11
Es ist so dunkel, dass ich meine eigene Hand vor Augen nicht erkennen kann. Ich habe Laternen erwartet, zumindest vereinzelt, aber das wenige Licht, das die Lampen drüben an der StraÃe abgeben, kommt hier schon nicht mehr an, wird von Baumkronen geschluckt und vor allem von der hohen Mauer. Gibt es auf Friedhöfen grundsätzlich keine Laternen oder nur auf diesem nicht? Der Mond ist auch keine groÃe Hilfe, er versteckt sich hinter dicken Wolkenfetzen, die zwar ein milchiges Glimmen durchlassen, aber auch das bleibt irgendwo auÃerhalb dieses Ortes hängen, ohne ihn zu erreichen. Ich knipse meine Taschenlampe an, gerade noch rechtzeitig, im letzten Moment kann ich die Baumwurzel, die vor mir aus dem Boden ragt, durch einen Sprung überwinden. Wäre ich über sie gestolpert, hätte das unter Garantie einen Sturz zur Folge gehabt. Unheimlich ist es hier, trotz Taschenlampe. AuÃerdem sieht bei Nacht alles ganz anders aus, viel verzweigter und verwinkelter, das muss von den Schatten kommen. Mir ist kalt, nachts ist es immer noch nur wenige Grad über Null. Vor einer halben Stunde habe ich mich aus meinem Zimmer geschlichen, durch die dunkle Wohnung (auch dort die Schatten, mehrmals bin ich an irgendwelchen Möbeln und Gegenständen angestoÃen, obwohl ich mich da so gut auskenne), habe die Wohnungstür leise hinter mir zugezogen und bin zur Bushaltestelle gelaufen. Es sind vier Stationen bis zum Friedhof, ich hatte vergessen nachzusehen, wann der Bus fährt, doch ich hatte Glück und musste bloà knapp zehn Minuten warten. Der Bus fährt um diese Uhrzeit nur noch alle fünfundvierzig Minuten, bald gar nicht mehr. Den Heimweg werde ich zu Fuà zurücklegen müssen.
Es dauert eine Weile, bis ich Katjas Grab gefunden habe. Die vielen Blumen darauf bewegen sich im Taschenlampenlicht wie lebendige Wesen. Ich ziehe den Brief, den ich an sie geschrieben habe, aus meiner Jackentasche und stecke ihn zwischen die BlumensträuÃe und die Briefe der anderen. Dann berühre ich vorsichtig den Umschlag eines anderen Briefes. Er muss irgendwann dem Regen ausgesetzt gewesen sein, das Papier ist nicht mehr glatt, sondern uneben und rau, ein bisschen wellig. Ich hatte es gar nicht gezielt vor, aber jetzt kann ich nicht anders, ich will einen der Briefe an Katja lesen. Nur um zu sehen, ob ich trotz meiner speziellen Situation ähnliche Worte gefunden habe wie die anderen. Ob ich noch menschlich bin, noch Mitgefühl empfinden kann. Mitgefühl ist der Anfang. Dann muss die Reue kommen, schlieÃlich die Entschuldigung für Davids Tat, die ich an seiner Stelle aussprechen muss.
Der wellige Brief lässt sich nicht öffnen, er ist zugeklebt, ich müsste ihn aufreiÃen. Ich lege ihn zurück und greife nach einem anderen, der nicht in einem Umschlag steckt. Doch als ich den Zettel auseinanderfalte, sind die Worte zu sehr vom Regen verwaschen worden, als dass ich etwas Zusammenhängendes entziffern könnte. Beim nächsten Brief ist nur die Lasche in den Umschlag geschoben worden, darin ertaste ich etwas Festes, offenbar eine Karte. Der Regen hat den Umschlag zwar etwas verklebt, aber ich kann ihn öffnen und die Karte entnehmen, ohne etwas zu zerstören. Die Karte hat ein Motiv mit Sonnenblumen auf rotem Grund, ohne aufgedruckten Text. Ich falte sie auseinander, die Feuchtigkeit bereitet mir noch einmal Mühe, sie gibt die mit schwarzem Kugelschreiber verfassten Worte nur widerwillig frei. Geliebte Katja, wir vermissen dich und hoffen, dass du es gut hast, wo du jetzt bist. In ewiger Liebe, Klara und Rolf.
Diesen Text hätte man ja fast schon draufgedruckt kaufen können. Was habe ich erwartet? Tiefgründige, aufgewühlte Worte aus den Herzen ihrer Angehörigen? Lange Schreiben mit offenen, ehrlichen Worten, die sich keiner Floskeln bedienen? Und jetzt das: Standardtext. Enttäuscht stopfe ich die Karte wieder in den Umschlag und lege ihn zurück. Ich denke an meine eigenen Zeilen für Katja, für dieses Mädchen, das ich gar nicht gekannt habe, und bin mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich selbst die richtigen Worte gefunden habe. Drei Stunden habe ich für meinen Brief an sie gebraucht, dann stand endlich all das auf dem Papier, was ich sagen wollte und musste. Doch bereits jetzt kann ich mich nicht mehr an alles erinnern, was ich geschrieben
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