Nach dem Amok
Wirklichkeit gar nicht weg kann, so wie ich.
Als ich das nächste Mal durch das Schaufenster nach drauÃen sehe, kann ich Sandra nicht entdecken. Entweder ist sie in das Nachbargeschäft hineingegangen oder sie ist längst weitergelaufen. Warum habe ich das Fenster nicht die ganze Zeit im Auge behalten?
Die Reisebürofrau wird allmählich unfreundlicher. Sie scheint nicht mehr daran zu glauben, dass ich jemand sein könnte, der sich nicht bloà informieren, sondern auch buchen will. Es macht jetzt keinen groÃen Spaà mehr, sich ihren Ausführungen hinzugeben. Sie trommelt lustlos auf die Tastatur ein und hält sich nicht mehr wirklich an meine Vorgaben.
»Vielen Dank«, erlöse ich sie, »ich werde noch mal drüber schlafen und komme Ende der Woche wieder vorbei.«
Wir wissen beide, dass ich nicht wiederkommen werde. Oder: Ich weià es, sie vermutet es. Sie macht sich nicht die Mühe, mir zur Verabschiedung die Hand zu geben oder aufzustehen, sie sieht mich nicht mal richtig an, als sie »Auf Wiedersehen« sagt. Sie sagt es zu ihrem Bildschirm, auf dem sie gerade die Spuren meiner Anfragen tilgt. Das macht mich irgendwie traurig, sogar ein bisschen wütend. Ich sage: »Tschüs.« Und denke: Leck mich, du blöde Kuh!
Vor dem Verlassen des Geschäfts kontrolliere ich durch das Schaufenster, ob Sandra fort ist. Sie ist es. Nur eine alte Frau mit ein paar Plastiktüten und ein hektischer Mann sind zu sehen. Ich atme auf, als ich ins Freie trete. Die Sonne scheint, es wird jetzt unaufhaltsam Frühling, und eigentlich muss ich gar nicht weg, wer braucht schon London oder Paris.
Ich bin bereits zwanzig Meter weiter, komme gerade an der Postfiliale vorbei, da laufe ich ihnen direkt in die Arme. Aus dem Innern der Filiale tauchen sie völlig unerwartet auf, die spiegelnde Glastür öffnet automatisch, und da stehen sie auch schon vor mir. Plötzlich erinnere ich mich, dass Sandras Freundin vorhin einen groÃen Brief in der Hand gehalten hat. Ich hätte mir denken können, dass sie auf dem Weg zur Post sind.
»Siehst du, ich hab dir doch gesagt, dass ich Maike im Reisebüro habe sitzen sehen«, sagt Sandra überflüssigerweise. Alles, was sie sagt, ist immer so dermaÃen überflüssig.
Das andere Mädchen, das ich vom Sehen her kenne, mit dem ich aber noch nie ein Wort gewechselt habe, scheint darüber in Kenntnis gesetzt worden zu sein, wer ich bin. Ihr Blick wandert etwas verlegen umher. Ich würde gern in ihren Kopf reinschauen, ich möchte wissen, was sie über mich denkt.
»Was wolltest du denn im Reisebüro?«, erkundigt sich Sandra.
Ich finde nicht, dass sie das irgendetwas angeht. Weder die Wahrheit noch eine Lüge. Also entscheide ich mich für etwas dazwischen.
»Ich wollte mich einfach mal informieren.«
Das war zwar nicht der eigentliche Grund für meinen Besuch im Reisebüro, trifft aber doch das, was ich dort letzten Endes getan habe.
»Mal raus aus allem, hm?«
»Warum nicht? Sind ja bald Osterferien.«
»Tja, schön, wenn man mal alles hinter sich lassen kann, nicht wahr?«
Diese scheinheilige Person! Am liebsten würde ich ihr an die Gurgel gehen und ganz fest zudrücken, bis ihr verlogenes Gesicht rot anläuft. Erst dann würde ich wieder loslassen. Vielleicht.
Das andere Mädchen beobachtet uns und tritt von einem Fuà auf den anderen. Sie muss merken, wie sehr wir einander hassen, falls Sandra es ihr nicht ohnehin gesteckt hat.
»Ja«, erwidere ich zuckersüÃ. »Ich möchte Jannik mit der Reise überraschen.«
Das hat gesessen. Sandra wird ganz blass, und ich fühle mich plötzlich stark, fast unverwundbar. Du kannst noch so sehr versuchen, mich zu dissen und zu verunsichern, Jannik liebt mich, und daran wird eine wie du im Leben nichts ändern können!
»Oh, toll«, sagt sie lahm.
Wir verabschieden uns, etwas in ihrem Gesicht zuckt, ein kleiner Muskel unterm Auge. Ihre Freundin hakt sie unter, und bei den ersten Schritten der beiden sieht es ein bisschen danach aus, als müsse sie Sandra stützen, so unbeholfen stolpert die neben ihr her. Dann fängt sich Sandra wieder. Nach zehn Metern gibt es bereits keine Anzeichen von Unsicherheit mehr. Ich hatte gehofft, sie würde sich noch mal nach mir umdrehen, etwas verwirrt oder nervös, wie man das in solchen Situationen oft in Filmen sieht, aber sie geht jetzt
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