Nach dem Amok
kannst doch nicht so spät allein drauÃen herumspazieren!«, schimpft Papa. »Wir sind fast verrückt gewesen vor Sorge! AuÃerdem ist morgen Schule und jetzt ist es ein Uhr!«
»Warum hast du nicht wenigstens eine Nachricht hinterlassen?«, mischt sich Mama ein.
Früher hätte sie hinzugefügt: Dann wissen wir zumindest ungefähr, wo dich einer um die Ecke gebracht hat, wenn du nicht wiederkommst. Sogar in solchen Fällen konnte sie noch scherzen (unter Papas missbilligendem Blick), wenn die Gefahr vorbei war. Jetzt geht das nicht mehr. Was damals schon etwas makaber war, ist mittlerweile undenkbar auszusprechen.
»Ich dachte, ihr schlaft. Warum soll ich dann einen Zettel schreiben?«
Sie bricht in Tränen aus. Nun habe ich ein richtig schlechtes Gewissen. Und das macht mich wütend. Es ist, als ob mir jeder ein schlechtes Gewissen machen will. Die Marberg, der Holtmann, sogar Jannik. David, die Leute in der Schule, jetzt sie. Ich bin wütend auf sie, weil sie mir dieses schlechte Gewissen macht. Ich bin wütend auf mich selbst, weil ich es habe.
»Da siehst du, was du angerichtest hast!«, schimpft Papa. »Geh auf dein Zimmer, Maike. Ãber deine Strafe reden wir morgen.«
Als ich kurz darauf im Bett liege, kann ich nicht einschlafen. Ich höre die noch immer aufgewühlten Stimmen meiner Eltern. Eine Tasse, die auf dem Küchentisch abgestellt wird. Das leise Rücken eines Stuhls auf den Küchenfliesen. Das kann noch ewig so weitergehen, das Reden und Besprechen. Wahrscheinlich haben sie vorhin Kaffee gekocht und sind von dem Zeug jetzt hellwach. Sie werden erst wieder ins Bett gehen, wenn sie alles thematisiert haben, nur nicht das Wesentliche.
12
In den ersten zwei Wochen standen sie täglich vor unserer Tür. Sie belauerten uns, hielten uns Mikrophone ins Gesicht, wann immer einer von uns das Haus verlieÃ. Wir blieben die meiste Zeit drinnen, gingen nur raus, wenn es sich nicht vermeiden lieÃ. Auch die anderen Hausbewohner haben sie belästigt und jene interviewt, die meinten, etwas zu sagen zu haben. Von denen gab es einige. Jannik erzählte mir einmal, in den Nachrichten habe er eine unschöne ÃuÃerung der alten Frau schräg über uns gehört, von deren Namen ich bis dahin nicht mal die genaue Schreibweise kannte, weil ich fast nie mit ihr zu tun gehabt hatte. Ich selbst habe damals keine Nachrichten gesehen oder gehört, bis heute habe ich nicht wieder damit angefangen. Wer weiÃ, wo es einem wieder über den Weg läuft, wo es mich kalt erwischen könnte in einem unerwarteten Moment. Jannik meinte, die Berichterstattung sei im Allgemeinen recht fair geblieben, das meiste seien einfach die Fakten gewesen, daneben habe es eingestreute Kommentare von Verwandten der Opfer, von Nachbarn (der Opfer sowie unserer Familie), Schülern und schlieÃlich auch völlig Unbeteiligten gegeben, die hauptsächlich Verständnislosigkeit über die Tat, vereinzelt auch so etwas wie Hass enthalten hätten. Hin und wieder sei auch eine Einschätzung eines Psychologen eingespielt worden, der zwar Bewertungen abgab, aber derart häufig den Konjunktiv und die Wörter möglich und davon auszugehen verwendete, dass es am Ende eigentlich so war, als hätte er überhaupt nichts gesagt. Ãber eine solche Berichterstattung kann man froh sein, meinte Jannik, die können auch anders, aber das traut sich keiner bei so einem sensiblen Thema. Rede gefälligst nicht darüber, als beträfe es uns nur am Rande, habe ich gesagt, und Jannik hat mir seither nichts mehr über die Berichte in den Medien erzählt.
Auch jetzt verirrt sich manchmal noch ein Reporter vor unser Haus. Die Nachbarn wollen, dass wir ausziehen. Sie sprechen es nicht direkt aus, aber sie geben es uns zu verstehen. Mit Blicken. Mit ihrem Verhalten. In unserem Briefkasten finden wir jetzt häufig Müll und Zettel mit Beleidigungen, einmal hat sogar jemand Hundekot reingeschmiert. Der Briefkasten ist nur für die Hausbewohner erreichbar, weil mittlerweile von allen penibel darauf geachtet wird, dass die Haustür immer verschlossen und das Treppenhaus für Unbefugte unzugänglich ist. Seit der Reporterwelle ist das so.
Jannik sagt: Ihr drei seid wie geblendete Kaninchen im Scheinwerferlicht. Keiner bewegt sich. Dein Dad ist so stur, der würde schon aus Trotz nie wegziehen. Er tut, als hätte er nichts mit Davids Tat zu
Weitere Kostenlose Bücher