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Nach dem Amok

Titel: Nach dem Amok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myriam Keil
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Grab hinüber, ziehe schon während des Laufens den Brief an ihn aus der Jackentasche und lege ihn noch aus dem Laufen heraus auf seinem Grab ab. Dann renne ich sofort weiter, wie beim Staffellauf der nächste Läufer nach der Stabübergabe, nur dass wiederum ich der nächste Läufer bin. Ich lasse den Friedhof hinter mir, kann aber trotzdem erst aufhören zu rennen, als er nicht mehr in Sichtweite ist.
    Hallo, David,
    ich weiß nicht so richtig, wie ich anfangen soll. Wir haben so lange nicht mehr geredet. Nicht erst, seit du nicht mehr da bist, sondern schon lange vorher war das so. Und jetzt können wir auch nicht mehr miteinander reden, du kannst nur zuhören, und ich finde, das musst du auch, das bist du mir schuldig. Ich kann dich nichts mehr fragen, und das ist unfair, weil du etwas hättest erklären müssen, wenigstens in einem Brief oder so. Obwohl es das nicht besser gemacht hätte, hörst du? Du hast die größte Scheiße gebaut, die einer bauen kann.
    Dann ist da noch etwas. Du kannst dich nicht mehr entschuldigen für alles (Würdest du, wenn du könntest?), aber ich kann es noch, und vielleicht bekommst du das ja irgendwie mit, falls du wirklich noch zuhören kannst. Hör mir zu, bitte. Auch wenn ich denke, dass du mir das Zuhören schuldig bist, weiß ich, dass ich mich entschuldigen muss, weil ich dir damals nicht zugehört habe. Aber ich hätte es getan, wenn ich gemerkt hätte, dass du echte Probleme hast. Das weißt du, oder? Du hättest mir alles sagen können, so wie früher. Ich habe dein Vertrauen nie missbraucht, wenn du mir etwas gebeichtet hast. Nie habe ich es Mama oder Papa erzählt, bis auf das eine Mal mit dem Spickzettel, aber da war ich doch erst zwölf! Und danach warst du mir auch nicht lange böse und bist wieder zu mir gekommen, wenn etwas los war. Bis vor einem Jahr oder so. Irgendwas muss ich falsch gemacht haben, oder warum hast du geglaubt, dass du dich mir nicht mehr anvertrauen kannst? Wir hätten eine Lösung gefunden, zusammen. Vielleicht nicht die beste, aber jedenfalls eine bessere als die hier. Jetzt liegst du da und bist tot, und du hast alles kaputt gemacht. Unsere ganze Familie und die Familien anderer Schüler. Mama und Papa sind nur noch Zombies, sie stolpern durch die Tage und Wochen und machen alles wie immer, aber sie tun es nicht, weil sie es wollen, sondern weil es irgendwo in ihrem Hirn einprogrammiert ist. Reden kann man mit ihnen nicht mehr. Übrigens: Hier liegt noch ein totes Mädchen, Katja. Hast du sie gekannt? Warum hast du ihr das angetan? Und Felix sitzt im Rollstuhl. Für immer! Toni und Nick haben mir gesagt, du hättest vor jemandem Angst gehabt und wärst vielleicht deshalb so ausgetickt. Stimmt das? Wenn es stimmt, dann muss ich rausfinden, vor wem du Angst hattest. Jetzt ist es zwar zu spät, aber ich denke, das bin ICH DIR schuldig. Sobald ich was rausgefunden habe, sage ich dir Bescheid. Wenn ich nur wüsste, ob du noch etwas davon mitbekommst!
    Ich hab dich immer noch lieb, trotz allem. Auch wenn ich dich manchmal angeschrien habe, wenn ich hier bei dir war.
    CU … nein, das ist blöd … Also, bis dann!
    Maike
    Bei dem Brief an David erinnere ich mich, im Gegensatz zu dem an Katja, an jedes Wort. Er ist aus mir herausgeflossen wie eine Essenz, die nicht nach innen gehört, die raus muss. Wie Eiter oder verdorbenes Essen.
    Als ich zu Hause ankomme und leise die Wohnungstür öffne, brennt Licht in der Wohnung. Papa stürzt auf mich zu, im Schlafanzug, mit darüber flatterndem offenem Bademantel, die Haare zerzaust. Hinter ihm sehe ich Mamas Kopf, auf ihrem Gesicht noch die Knitterspuren vom Kopfkissen. Vor ein oder zwei Jahren hat sie angefangen zu jammern, dass die Knitterspuren immer länger bräuchten, um zu verschwinden, sie sei nun schon bei über einer halben Stunde.
    Â»Wo bist du gewesen?«, will Papa wissen. »Herrgott, Maike!«
    Â»Ich bin ein bisschen rumgelaufen. Ich konnte nicht schlafen.«
    So ein Mist. Da habe ich höllisch aufgepasst, dass ich unbemerkt aus der Wohnung komme, aber keinen Gedanken daran verschwendet, wie ich meine Abwesenheit tarnen könnte. Bestimmt haben sie in mein Zimmer gesehen, ich glaube, das tut Mama in den letzten Wochen öfter, wenn ich schlafe. Warum habe ich nicht wenigstens etwas unter meine Bettdecke gestopft, damit es aussieht, als läge ich im Bett!
    Â»Du

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