Nach dem Amok
haben muss.
»Immer dieser Schrott, den man ungefragt angedreht bekommt! Wer braucht schon eine Drehbuchautorin! Was verspricht sich die Frau davon, fremden Leuten ihre Visitenkarte ans Auto zu pinnen?«
»Vielleicht hat sie es ja gar nicht selbst gemacht. Vielleicht hat sie jemandem ihre Karte gegeben und der wollte das Ding loswerden.«
»Wer weiÃ, ja, klingt wahrscheinlicher.«
Hat er das geschluckt? Er mustert mich überheblich, scheint mich aber nicht länger für die Ãbeltäterin zu halten, die sein Auto als Werbefläche missbraucht hat. Eigentlich hätte ich mir einen Golf-Fahrer anders vorgestellt. Gelassener. Friedlicher. Sympathischer. Plötzlich ist es mir gar nicht mehr wichtig, ob er mir glaubt oder nicht. Was soll mir denn schon passieren, nur wegen einer blöden Karte? Angeraunzt hat er mich ohnehin schon.
»Ich muss dann auch weiter«, sage ich.
Er brummt etwas Unverständliches, wendet sich ab und geht zu seinem Wagen zurück. Dämlicher Fatzke!
Die Begegnung mit dem Mann hat mir komplett die Laune verdorben. Normalerweise hilft es mir abzuschalten, wenn ich Leute beobachte, Adressen sammle, mir Berufe ausdenke und meine Visitenkarten verteile. Heute aber komme ich einfach nicht mehr in die richtige Stimmung. Es stellt sich nicht das Gefühl ein, endlich mal eine andere zu sein: nämlich die, die auf der Karte steht. Ich bleibe die, die ich bin.
Ich hole mein Handy aus der Jackentasche und wähle Janniks Nummer.
Als ich zum Treffpunkt komme, wartet er schon. Er sieht mich nicht gleich, weil er mit seinem iPod beschäftigt ist, und ich beobachte ihn eine Weile aus wenigen Metern Entfernung. Wie ihm ein paar Haarsträhnen in die Stirn fallen. Wie er gedankenverloren mit dem Fuà zur Musik wippt und dabei mit seinem Schuh auf dem Boden ein Geräusch verursacht, das er selbst gar nicht hört, weil er die iPod-Ohrstöpsel drin hat. Er ist ziemlich gewachsen in den letzten Monaten, obwohl er schon vorher zu den GröÃeren gehört hat. Er ist über mich hinausgewachsen, denke ich für einen Moment, dann verscheuche ich den Gedanken und gehe auf Jannik zu. Ich lege ihm die Hand auf den Rücken, aber etwas tiefer, als Sandra es dürfte.
»Hey, du.«
Als hätte ich ihn aus einem Traum aufgeweckt. Er schaut mich an, im ersten Augenblick noch wie aus einer groÃen Entfernung, als erkenne er mich nicht. Dann das Weiche in seinem Blick, als er in die Gegenwart zurückfindet, wieder zu meinem Freund wird. Ich würde ihm nie davon erzählen, dass ich dieses Sanfte sehen kann und an ihm liebe; er würde es nicht mögen, er will wie alle Jungs weder sanft noch niedlich sein. Süà ginge gerade noch, wenn es im Sinne von sexy gemeint wäre.
»Ich hab dich vermisst«, sagt er.
Wir haben uns in den letzten Tagen nur in der Schule gesehen. Ich war so viel mit mir selbst beschäftigt, mit Sandra, mit meinen Visitenkarten, mit meinen Briefen an David und Katja. Ich habe Jannik noch nicht von den Briefen erzählt, das will ich jetzt nachholen. Das mit den Visitenkarten weià er nicht, und das soll auch so bleiben, denn ich glaube nicht, dass er es verstehen würde. Von den Visitenkarten weià niemand. Auch Holtmann nicht. Ich kann mir halbwegs vorstellen, wie Holtmann sich auf so etwas stürzen würde. Was Jannik dazu sagen würde, mag ich mir gar nicht erst ausmalen. Und wer weiÃ, da er so gut mit Sandra befreundet ist, könnte es sein, dass er ihr so manches über mich erzählt. AusschlieÃen kann ich das nicht. Es wäre ein Leichtes für Sandra, aus den Visitenkarten etwas zu machen, was sie gegen mich verwenden kann. Auch aus anderen Dingen, die ich Jannik im Vertrauen erzähle, könnte durch sie eine Waffe werden. Ich muss wirklich vorsichtig sein mit dem, was ich Jannik sage.
»Ich habe David einen Brief geschrieben. Auch dem Mädchen, das er erschossen hat.«
Er zieht die Augenbrauen hoch. Zu spät wird mir bewusst, dass Sandra meine Briefe an David und Katja als Schuldeingeständnis werten könnte, sollte sie davon Wind bekommen.
»Davon darfst du aber keinem erzählen!«, sage ich. »Versprich es!«
»Na klar. Hat es dir denn geholfen, die Briefe zu schreiben?«
»Ich glaube schon. Ich habe sie den beiden auf dem Friedhof vorbeigebracht.«
Das hört sich an, als hätte ich einem Kranken eine Zeitschrift gebracht oder einer
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