Nach dem Amok
Essverhalten, sondern auch alles andere im Auge behalten zu müssen, was in meinem Zimmer geschieht. Deshalb bin ich öfter bei Jannik als er bei mir. Sie steht gern unvermittelt in der Tür. Ich habe doch geklopft, sagt sie dann. Ja, und ohne eine Antwort abzuwarten, stolperst du eine Sekunde später herein, da kannst du dir das Klopfen gleich sparen. Werd nicht frech, Maike.
Wenn wir abschlieÃen, ist es noch schlimmer, denn dann spricht sie die Dinge an, die kein Mensch von seiner Mutter hören möchte. Ich weiÃ, dass ihr nicht nur Händchen haltet, aber lasst euch doch Zeit. Als ich in deinem Alter war, habe ich noch nicht die Pille genommen. Diese ganzen Hormone sind nicht gut für junge Mädchen.
Das alles nicht nur zu mir, sondern vor Jannik. Ich könnte sterben, wenn sie das macht. Janniks Eltern sind da unkomplizierter und wesentlich weniger peinlich.
Der Safariheld3769 ist tatsächlich das richtige Passwort. Während sich die Symbole auf dem Monitor aufbauen, werde ich plötzlich sehr traurig. David hat ein Wort ausgesucht, um das nur wir beide wussten. Eine Verbindung zwischen uns war vielleicht bis zum Schluss vorhanden, aber irgendwo verschüttet, wo man sie nicht gleich entdecken konnte, ich hätte suchen, vielleicht nur ein bisschen unter die Oberfläche gehen müssen. Je länger ich darüber nachdenke, umso weniger Entschuldigungen gibt es dafür, es nicht getan zu haben.
Ich gehe systematisch vor und öffne der Reihe nach die Dateien auf dem Laptop. Zunächst klicke ich mich durch einige Ordner mit mehreren hundert Fotos und zwinge mich dazu, bei nicht allzu vielen Bildern hängen zu bleiben. Erinnerungen kann ich mich auch später noch hingeben, jetzt muss ich erst einmal nach Anhaltspunkten für Davids Verhalten suchen. Nach den Fotos beginne ich mit den Textdokumenten. Das dauert viel länger und ist anstrengend, meine Augen fangen an zu brennen. Aber da ist nichts. Kein Hinweis auf jemanden, vor dem er Angst gehabt haben könnte, und auch kein Hinweis auf den Amoklauf. Als ob er es nie vorgehabt hätte.
Ich gebe auf. Noch kurz ins Internet, der Einfachheit halber gleich von Davids Laptop aus, meinen eigenen habe ich heute noch nicht hochgefahren.
Bei den abgespeicherten Internetseiten bleibe ich dann abermals hängen. Seine Favoriten verraten mir vielleicht etwas über den neuen David und geben Aufschluss über das, wofür er sich zuletzt interessiert hat. Militärflugzeuge können ja wohl kaum alles gewesen sein.
Beim Durchsuchen der Internetseiten schieÃen mir immer wieder Fragen durch den Kopf. Hat er sich im Internet über Waffen informiert? Dort sogar möglicherweise einen Kontakt zu jemandem hergestellt, der ihm eine beschafft hat? Das geht doch so einfach in der Anonymität des www, hört man immer. Papa hat uns verboten, auf Seiten zu surfen, die er nicht zuvor für unbedenklich befunden hat. Wir haben uns nie daran gehalten und immer den Seitenverlauf gelöscht, damit er nichts bemerkt, falls er mal durch einen dummen Zufall unsere Laptops eingeschaltet vorfinden und einer heimlichen Kontrolle unterziehen würde. Es gibt Leute, die sich übers Internet zum gemeinsamen Selbstmord verabreden. Man kann sich ein Second Life erschaffen, das bei einigen zum First Life wird. Ich habe immer gedacht, ich hätte die Kontrolle über alles, was im Netz mit mir geschieht. Habe ich sie? Hatte David sie?
Wie erwartet finde ich unter seinen Favoriten nur harmloses Zeug. Die heiklen Seiten hätten wir dort nie abgespeichert. Einige Foren, hauptsächlich zum Thema Sport. Sogar eines über das Segelfliegen. Hat er das nur vergessen zu löschen oder hat er sich bis zuletzt noch dafür interessiert? Seiten für MP3-Downloads. Ein paar Videos auf YouTube. Eine Clipfish-Seite mit einer Folge von South Park. Zwei Blogs, einer mit Gedichten bekannter und unbekannter Autoren (hier muss ich lächeln, David hatte schon immer eine Schwäche für Gedichte, auch wenn es ihm peinlich war), und einer, der den Titel ReiÃleinen sind immer rot trägt. Was für ein komischer Titel. Der Bloginhaber des ReiÃleinen-Blogs verfasst seine Einträge unter dem Namen Exoplanet . Ich lese den letzten Eintrag, der ganz oben steht:
vielleicht werfe ich eine münze. das macht man doch so bei wichtigen entscheidungen. ich mache meine entscheidung nicht von kopf oder zahl abhängig, aber es ist gut,
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