Nach dem Amok
schaffen und als sei derjenige, der das getan hat, nicht der Sohn gewesen, den er groÃgezogen hat. Deine Mum ist noch schlimmer, sie erträgt das Hiersein am allerwenigsten und schafft es trotzdem nicht auszusprechen, dass sie weg will. Mehr noch, sie kapiert gar nicht, dass sie weg will, sie kann das nicht zulassen, weil hier Davids Grab ist und damit das Einzige, was ihr geblieben ist. Und du, fährt Jannik fort, du willst die Heldin spielen, ach was, die Märtyrerin, du willst dich alldem hier aussetzen, weil du dich selbst bestrafen und das alles auch noch verstehen möchtest. So kann man aber nicht gesund werden, nicht mal dein Psychodoc findet das gut!
Willst du, dass ich wegziehe?, frage ich.
Wenn es dir dann besser geht, ja, zumindest in den nächsten Ort.
Als ob es dort anders wäre.
Es ist so lächerlich, dass die Medien nur den ersten Buchstaben des Nachnamens drucken, David R., wenn hier doch jeder jemanden kennt, der einen kennt, der David kannte oder der einen anderen aus der Familie R. kennt. Eins und eins zusammenzählen und es dann weitertratschen, das tun alle.
An all das denke ich, wenn ich wie jetzt durch die Stadt laufe, wenn ich mir die Häuser ansehe, die Menschen, die dort hineingehen und herauskommen, die hinter den Fenstern manchmal für kurze Momente sichtbar werden. Hin und wieder sehe ich welche, die offensichtlich glücklich sind. Diese Adressen notiere ich mir für meine Visitenkarten.
Der weiÃe Golf bekommt eine von den ganz neuen Karten unter den Scheibenwischer geklemmt. Die Adresse auf der Karte ist die von der Familie mit dem kleinen Jungen, die ich damals durchs Küchenfenster beobachtet habe. Obwohl mich der Haaransatz des Jungen an den von David erinnert hat, geht das in Ordnung, denn die Erinnerung an David ist für mich ja überall, auch in den guten Dingen. Ãber der Adresse steht mein Name und ein schöner Beruf: Drehbuchautorin. Damit kann man Geschehnisse in die richtigen Bahnen lenken, selbst das grausamste Erlebnis ist nur fiktiv, man hat es unter Kontrolle, es untersteht einem Plan und kann, wenn es einmal stattgefunden hat, zwar nicht mehr korrigiert, aber doch so weitergesponnen werden, dass am Ende etwas Versöhnliches steht.
Wenn ich eine Karte abgelegt habe, bleibe ich manchmal in der Nähe stehen und warte, bis jemand sie findet. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder nimmt der Finder die Karte, mustert sie (sofern er sie nehmen muss , weil sie beispielsweise unter seinem Scheibenwischer klemmt) etwas angewidert, als habe er ein ekliges Insekt angefasst, lässt sie auf den Boden fallen beziehungsweise wirft sie, wenn er ein ordentlicher Mensch ist, in den nächsten Mülleimer. Oder aber der Finder nimmt die Karte (beispielsweise von einem Mauervorsprung), mustert sie interessiert und lässt sie dann auf den Boden fallen beziehungsweise legt sie, wenn er ein ordentlicher Mensch ist, an den Fundort zurück. Nur einmal war es anders, da fand eine Frau die Karte neben sich auf einer Parkbank, nahm sie in die Hand, betrachtete sie, drehte sie lange zwischen den Fingern und steckte sie dann in ihre Handtasche. Es war die Fotografin-Visitenkarte.
Bei dem weiÃen Golf habe ich nicht vor zu warten. Aber als ich erst wenige Schritte von dem Wagen entfernt bin, sehe ich aus dem Augenwinkel den Besitzer, der gerade sein Auto erreicht. Er nimmt die Visitenkarte ins Visier und dann mich.
»Hey!«, ruft er mir zu.
Ignoriere ihn, sage ich mir. Er könnte sonstwen meinen. Aber es ist kaum jemand in der Nähe. Ignoriere ihn trotzdem.
»Hast du mir gerade diesen Mist unter den Wischer geklemmt?«
Seine Hand an meinem Oberarm. Er wedelt mit der Karte vor meiner Nase herum.
»Nein«, behaupte ich.
»Aber ich habe doch gesehen, wie du dich über mein Auto gebeugt hast!«
»Die war vorher schon da«, sage ich. »Ich habe nur geschaut, was draufsteht.«
Er lässt meinen Arm los. Erst jetzt habe ich den nötigen Abstand zu ihm, um ihn genauer betrachten zu können. Er ist Mitte bis Ende zwanzig, hat blonde Haare und etwas Verzerrtes im Gesicht, das ihn wirken lässt wie jemanden, der es eilig hat. Der es immer eilig hat. Das Verzerrte rührt nicht von seinem Aussehen, es entspringt seinem Charakter und ist in seiner Mimik sichtbar. Dass er so gehetzt ist und sich dennoch die Zeit nimmt, mir hinterherzulaufen, deutet darauf hin, dass meine Karte ihn extrem verärgert
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