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Nach dem Amok

Titel: Nach dem Amok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myriam Keil
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Als sich die Haustür hinter ihr schließt, bin ich enttäuscht. Ich hätte sie gern noch länger beobachtet, die Art und Weise, wie ihr beim Bücken die Haare in die Stirn fallen, obwohl sie ziemlich kurz sind, und wie sie die Haare in die richtige Position zurückschüttelt, sobald sie sich wieder aufrichtet.
    Ich habe ihr von der anderen Straßenseite aus zugesehen, bestmöglich von einem parkenden Auto verdeckt. Hier fällt man auf, wenn man fremd ist. Es sind immer nur vereinzelt Menschen zu sehen und die scheinen alle hierher zu gehören. Beinahe von jedem lässt sich das dazugehörige Haus erraten, die meisten laufen ohnehin auf ihrem Grundstück herum, und wenn tatsächlich mal jemand auf dem Bürgersteig unterwegs ist, dann ist er entweder gerade aus einem Haus herausgekommen oder steuert auf eines zu.
    Für heute habe ich gefunden, wonach ich gesucht habe, jetzt brauche ich nur noch einen Zettel und einen Stift. Normalerweise habe ich beides griffbereit in der Jackentasche, aber es ist heute draußen zum ersten Mal verhältnismäßig warm, sodass ich nur eine Weste übergezogen habe. Schließlich finde ich das Gesuchte in der Handtasche, die ich ursprünglich gar nicht hatte mitnehmen wollen und dann doch mitgenommen habe, weil ich mich spontan entschied, für die heutige Tour durch die Stadt vorsichtshalber ein paar Brote und etwas zu trinken einzupacken. Es ist nie absehbar, wie lange diese Spaziergänge dauern und wo sie mich hinführen.
    Ich notiere die Adresse des Hauses und mache mich auf den Heimweg.
    Die Osterferien sind nicht das, was ich mir erhofft hatte. Meine Bitte, einige Tage mit Jannik wegfahren zu dürfen, zusammen mit seinen Eltern – die allerdings keine Reise geplant hatten und von ihrem Glück, in unseren Urlaubsplänen vorzukommen, gar nichts wussten –, wurde von Mama und Papa mit einer Handbewegung vom Tisch gewischt. Nein, in der jetzigen Situation fährt niemand irgendwohin, wir nicht, und erst recht nicht du allein mit irgendwelchen fremden Leuten. Dass sie Janniks Eltern als »fremde Leute« bezeichnen, hat Tradition. Irgendwie haben seine und meine Eltern einander nie richtig kennengelernt, und der spärliche Kontakt ist seit dem Mist, den David gebaut hat, endgültig abgebrochen.
    Jannik sehe ich derzeit wegen der freien Tage zwar häufiger als sonst, aber ich versuche, nicht zu oft mit ihm allein zu sein. Ich habe Angst, er könnte wieder mit mir schlafen wollen, und ich habe Angst, es wieder nicht zu können, obwohl ich es eigentlich möchte. Wenn Jannik nicht da ist, stelle ich es mir vor, und dann ist es wunderschön und nah, so wie früher. Doch sobald er wirklich neben mir liegt, fühle ich mich fremd in meiner Haut. Wenn er mich berührt, und sei es nur am Arm oder an der Hand, dann berührt er diese fremde Haut, und ich denke, er müsste es merken, weil ich ja schließlich auch merke, dass seine Berührung nicht durchkommt durch diese fremde Haut. Aber er merkt anscheinend überhaupt nichts, er spürt nur eine Haut, von der er glaubt, es sei meine.
    Heute treffen wir uns mit Romy und Marc. Das haben wir lange nicht mehr getan, eigentlich ist es seit Davids Tat unser erstes richtiges Vierertreffen außerhalb der Schule. Marc und Jannik sind in den ersten Minuten sehr still, dann albern sie plötzlich total herum, als käme es nur darauf an, wieder so wie früher zu sein, wir vier zusammen, gut gelaunt. Ich sehe Romy an, die ziemlich gequält lächelt. Wir alle wissen, worum es bei diesem Treffen geht.
    Â»Ich will nicht ins Kino«, sagt Romy. Sie spuckt ihren Kaugummi vor sich auf den Asphalt und mustert ihn, als sei dieses kleine weiße Würstchen etwas äußerst Interessantes, das man nicht alle Tage zu sehen bekommt. »Da scheint endlich mal die Sonne und ihr wollt wieder nur drinnen rumhocken.«
    Â»Aber es war doch alles abgesprochen«, sagt Marc.
    Â»Du bist unspontaner als mein Opa«, mault sie.
    Â»Und ihr zwei, habt ihr euch auch umentschieden?«, will Marc von Jannik und mir wissen.
    Â»Hm«, meint Jannik, was nicht wirklich viel aussagt.
    Â»Ich bin mit allem einverstanden«, sage ich. »Aber Romy hat schon recht mit der Sonne.«
    Â»Ich glaube, ich bin hier im Irrenhaus!«, motzt Marc in die Runde.
    Wir stehen vor dem Kino und betrachten den Eingang, als würde eine fette Spinne darüberhängen,

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