Nach dem Amok
Augen sind etwas zusammengekniffen, aber ich kann trotzdem erkennen, wie groà sie sein müssen, wenn sie normal geöffnet sind. Diese riesige dunkelblaue Iris, die nach rechts und links ihre AusmaÃe preisgibt.
Meine Lippen kleben aufeinander, ich kann nichts erwidern.
»Hat es dir die Sprache verschlagen? Ich habe dich letztens schon hier rumstehen sehen. Du hast wohl gedacht, ich würde dich hinter dem Auto nicht bemerken.«
»Sorry«, gelingt mir endlich ein Anfang. »Ich fand euer Haus einfach schön.«
»Reden wir von diesem spieÃigen Ding?«
Jetzt lacht sie, der sichtbare Teil ihrer Iris verschiebt sich dabei ein Stückchen nach oben.
»Ich finde es auch spieÃig«, sage ich. »Und trotzdem gefällt es mir. Deshalb bin ich ja stehen geblieben, weil mich das überrascht hat.«
Jetzt ist die Iris beinahe in voller GröÃe sichtbar, nur der obere Rand wird ein kleines bisschen vom Oberlid verdeckt.
»Du bist irgendwie merkwürdig«, stellt sie fest.
Ich kann ihr nicht widersprechen. Wahrscheinlich bin ich tatsächlich irgendwie merkwürdig. Für manche sogar irgendwie unheimlich.
»Wohnst du hier in der Nähe?«, will sie wissen. »Ich habe dich vorher noch nie gesehen.«
»Ich bin hier nur ein bisschen spazieren gegangen.«
»Aha. Spannende Freizeitbeschäftigung, die du da hast.«
»Ja.«
Wir mustern einander jetzt eingehender und sagen eine Weile nichts mehr. Ihre dunkelbraunen Haare sind fast so kurz wie die eines Jungen, nur der Pony ist länger und fällt mal hierhin, mal dorthin. Sie ist etwas kleiner als ich. Das bemerke ich erst jetzt, sie macht nämlich einen gröÃeren Eindruck, wahrscheinlich wegen ihres selbstbewussten Auftretens.
»Ich heiÃe Kim«, sagt sie schlieÃlich.
»Maike.«
»Willst du mit reinkommen auf einen Eistee?«
»Eistee?«
»Meine Mum macht das Zeug ständig, und in solchen Mengen, als müsste sie eine ganze FuÃballmannschaft damit bewirten.«
Wir gehen zusammen ins Haus. Kims Eltern sind nicht da. Der Eistee schmeckt ziemlich gut, nicht wie dieses klebrig-süÃe Zeug, das man fertig kauft. Zwischen den beiden Fenstern, dem nach vorne und dem nach hinten, bleibe ich einen Moment lang stehen und stelle mir vor, dass von drauÃen gerade jemand hineinsieht, für den ich als Scherenschnitt sichtbar bin. Kim erzählt, dass sie auf die Realschule geht, kein Wunder also, dass ich sie nicht gekannt habe. Sie ist sechzehn, wie ich, und geht ebenfalls in die zehnte Klasse. Was sie an diesem Tag über mich erfährt: dass ich Maike heiÃe und die zehnte Klasse des Gymnasiums besuche, an dem im Januar der Amoklauf stattgefunden hat. Schreckliche Geschichte, findet Kim. Ja, sage ich, total schlimm.
18
In den letzten Tagen der Osterferien treffe ich Kim mindestens ebenso oft wie Jannik. Ich habe Jannik von ihr erzählt, und er freut sich, dass ich eine neue Freundin gefunden habe. Das mit David macht ihr nichts aus?, hat er gefragt. Nein, habe ich geantwortet, damit kommt sie klar. Er hat etwas schuldbewusst zu Boden gesehen, weil er nicht so gut damit klarkommt. Das ist doch ganz natürlich, habe ich ihn beruhigt, du bist völlig anders in die Sache involviert. Kim ist mit niemandem von unserer Schule befreundet und sie hat keinen Bezug zu einem der Opfer. Jannik hat erleichtert gelächelt und meine Hand genommen, die sich ein bisschen weniger fremd angefühlt hat als in den Wochen davor, wenn er sie berührt hat.
Kim hat keinen Freund. Sie hat mir erzählt, dass sie noch nie einen hatte und auch gar keinen möchte. Wann willst du denn einen haben, habe ich gelacht, mit dreiÃig? Ich mache dieses Jahr die Schule fertig, hat sie gesagt, vielleicht, wenn ich eine Lehrstelle habe. Kim will Veranstaltungskauffrau werden, aber dafür braucht sie einen wahnsinnig guten Notendurchschnitt, sagt sie, weil die Firmen mittlerweile meist Bewerber mit Abitur bevorzugen, da muss man rausstechen, wenn man nur einen Realschulabschluss hat. Deshalb lernt sie wie verrückt, im Halbjahreszeugnis hatte sie einen Schnitt von 1,4. Das Abi will sie danach aber nicht versuchen, sie möchte endlich etwas Echtes machen. Echt bedeutet für sie: jedenfalls keine Schule mehr.
»Wie ist das eigentlich, das erste Mal?«, erkundigt sich Kim jetzt bei mir. »Ich habe mich nie getraut, das eine meiner Freundinnen zu fragen. Mona
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