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Nach dem Amok

Titel: Nach dem Amok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myriam Keil
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Klasse hier seither keinen Unterricht mehr, das will uns niemand zumuten, aber wegen eines Wasserschadens in unserem Physiksaal mussten wir für die Physikstunden vorübergehend hierher umziehen. Lena und Tanja sind von den Stunden hier befreit worden, sie haben erklärt, diesen Raum nie wieder betreten zu können. Ich hingegen wollte es versuchen, der Rest der Klasse ebenfalls. Heute war unsere zweite Physikstunde in diesem Saal. Keiner konnte sich konzentrieren, alle waren wie gelähmt beim Anblick dessen, was uns damals, in diesen schrecklichen Minuten, aus dem Raum heraus angestarrt hat: in Schulbänke geritzte Furchen, eine abgebrochene Ecke an der Heizungsverkleidung, das feuerfeste, am Boden festgeschraubte Pult. Es tut gut zu spüren, dass es nicht nur mir so geht, dass hier, in diesem Raum, nicht nur ich anders bin, sondern dass alle anders sind, fremd, verloren. Obwohl der Saal neu gestrichen worden ist und die Bilder an den Wänden ausgetauscht wurden, sind es immer noch dieselben Mauern, die uns umgeben.
    Die anderen sind in der Pause, unten auf dem Hof, den ich nicht sehen kann, weil keine Fenster zu jener Seite abgehen. Nur die andere Seite sehe ich, die Straße vor der Schule, wo sich in regelmäßigen Abständen ein paar Autos vorbeischieben, wenn die Ampel ein Stück weiter hinten gerade wieder eine Grünphase hatte. Ich beeile mich mit dem Tafelwischen, mache es nicht besonders ordentlich, ich will hier so schnell wie möglich raus. Kein Abtrocknen, der nasse Schwamm muss ausreichen. Dann schnappe ich meine Sachen, um den Saal zu verlassen. Noch während sich die Türklinke unter meiner Hand senkt, stemme ich mich mit der Schulter gegen die Tür, die etwas schwerer ist als die normalen Klassenzimmertüren. Der Widerstand versetzt meiner Schulter einen Stich, es ist nicht der übliche Widerstand des Gewichts der Tür. Meine Schulter prallt gegen das grün gestrichene Hindernis, es gibt kaum nach, ein paar lächerliche Millimeter vielleicht, ich höre, wie der vorgeschobene Metallriegel im Türrahmen festsitzt, während ich an der Klinke rüttele. Mir bricht der Schweiß aus. Die Chemiesäle gehören zu den wenigen Räumen, die zwischen den Unterrichtsstunden abgeschlossen werden. Kettner muss abgeschlossen haben, ohne dass ich es gemerkt habe. Aber warum hat er das getan, wenn er mich doch mit dem Tafelwischen beauftragt hat und genau wusste, dass ich noch eine Weile hier drin sein würde?
    Ich lasse die Klinke los und lehne mich mit dem Rücken gegen die Tür. Ich versuche, ruhig zu bleiben. Es kann nur ein paar Minuten dauern, bis Kettner zurückkommt und den Raum für Janniks Klasse wieder aufsperrt. Jetzt durchzudrehen und wie eine Verrückte gegen die Tür zu hämmern und herumzuschreien, würde nichts bringen. Da ist momentan niemand draußen auf dem Flur, der mich hören könnte. Außerdem fühle ich mich überhaupt nicht in der Lage zu schreien oder zu klopfen. Alle Kraft ist aus meinem Körper entwichen. Ich kann mich nicht einmal mehr auf den Beinen halten und rutsche mit dem Rücken langsam an der Tür herunter, bis ich auf dem Boden sitze. Irgendwo weiter unten im Gebäude schlägt eine andere Tür zu, die Erschütterung pflanzt sich bis in meinen Rücken fort. Ich will, ich muss weg von der so unvermittelt erzitternden Saaltür, aber ich kann nicht aufstehen, ich krieche auf allen vieren los, nach vorne zum Pult, zu dem am Boden festgeschraubten Pult, unter dem ich mich verstecke; es hat eine Front, die bis auf den Boden reicht, die Seitenteile ebenfalls, nur dort, wo der Stuhl steht, ist es offen. Ich krabble so weit wie möglich unter das Pult, bleibe dort liegen, ich zittere so, wie die Tür in meinem Rücken gezittert hat, es hört einfach nicht auf.
    Ich bekomme kaum mit, wie sie mich finden. Es sind nur vereinzelte Bilder, die hängen bleiben, ein bisschen wie damals, als ich zum ersten Mal aus diesem Raum geführt wurde. Ich sehe ein erschrockenes Lehrergesicht. Noch mehr erschrockene Augen. Jannik, der sich über mich beugt, mein Gesicht streichelt. Ich höre Gesprächsfetzen, einzelne Worte, die sich in meinen Kopf eingraben und das übrige Gesagte einfach vorbeiziehen lassen. Keines dieser hervorgehobenen Worte scheint etwas zu bedeuten, ich begreife die Prioritäten auf meiner Liste nicht mehr. Gelb. Gelbe Wände. Neonröhre über mir. Das

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