Nach dem Amok
Krankenzimmer. Hierher wollte ich nicht, aber ich konnte mich nicht dagegen wehren, dass man mich hergebracht hat. Ich möchte sagen, dass ich das nicht will, dass ich nicht hier sein will, in dieser fensterlosen Enge. Dass es sich anfühlt, als ob ich ein neuer Einrichtungsgegenstand dieses grässlichen Zimmers geworden wäre, auf einer Ebene mit Gelb, Neonröhre, Heizkörper. Mein Körper.
Die Hand meiner Mutter auf meiner Stirn. Die Sätze werden allmählich vollständiger. Wo wurde sie gefunden? Unter dem Pult? Gelb, immer noch. Diese Farbe will nicht mehr aus meinem Kopf weichen. Meine Haut jetzt so fremd wie noch nie, eine zum Abschluss gekommene Metamorphose. Die Hand meiner Mutter. Was ist passiert? Ein bedauerlicher Vorfall, der Lehrer dachte, der Saal sei leer, und hat sie versehentlich eingeschlossen. Wie konnte das passieren? Das darf nicht passieren. Nein, kein Arzt, ich bringe sie sofort nach Hause. Ich lasse sie nicht länger hier. Sie haben schon genug angerichtet.
Ich kann tatsächlich gehen, mit vorsichtigen, kleinen Schritten, weichen Knien, auf den Arm meiner Mutter gestützt. Ich kann gehen, und es kommt mir seltsam vor, dass das funktioniert. Sie sagt: Ich werde den verantwortlichen Lehrer zur Rechenschaft ziehen. Aber ich weiÃ, sie wird es nicht tun. Schon morgen wird sie denken, dass sie nicht das Recht dazu hat. Sie ist selbst für zu vieles verantwortlich.
Der Arzt an meinem Bett macht Arztgeräusche. Der Klettverschluss der Blutdruckmanschette ist laut, reiÃend. Dann Knistern, Ploppen, leise Flüssigkeiten.
»Bis morgen früh sollte sie durchschlafen. Dann wird es ihr besser gehen. Aber nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter.«
Jannik hält meine Hand.
»Es tut mir so leid«, flüstert er.
»Bleibst du bei mir, bis ich eingeschlafen bin?«
Er drückt meine Hand noch ein bisschen fester. Das Medikament hat meine Haut nicht zurückverändert, der Prozess lässt sich nicht mehr umkehren. Ich kann Jannik das nicht sagen. Ich kann ihm nicht sagen, dass er die Hand einer anderen hält. In meinen Augen sind Tränen, in seinen auch.
»Vielleicht gehen wir übermorgen gemeinsam zu deinem Termin beim Holtmann, was meinst du?«, murmelt er.
Das ist gut. Wenn wir zu zweit dort sind, ist die Chance groÃ, dass es einem von uns gelingt, einen Blick auf das Familienfoto zu werfen. Dieses Geheimnis darf Holtmann nicht für sich behalten, wenn ich ihm vertrauen soll. Das weià ich jetzt.
»Schläfst du schon?«
Jannik beugt sich über mich. Ich schüttele den Kopf und merke erst jetzt, dass meine Augen geschlossen sind. Du darfst mich anschauen, während ich sie geschlossen habe, nur du. Schick die anderen raus.
Ich höre, wie meine Mutter den Arzt zur Tür bringt. Dann ist alles still.
20
»Echt?«, sagt Kim und macht groÃe Augen.
»Pass auf, wo du hinfährst!«, rufe ich, weil sie mit ihrem Rad gefährlich ins Schlingern gerät.
»Hast du so was öfter?«
»Nein. Aber normalerweise bin ich auch nicht eingesperrt.«
Wir erreichen eine Steigung, die wir bereits kennen. Kim setzt sich mit ihrem Rad vor mich und geht aus dem Sattel. Ihr Po in der engen Jeans macht beim Treten in die Pedale lustige Bewegungen, spannt sich mal rechts, mal links an. Wie es wohl aussieht, wenn man nackt Fahrrad fährt?
»In einem Aufzug«, sagt Kim, »da würde ich es verstehen können. Oder in einem engen Schacht. Oder in einem Sarg.«
In einem Sarg. Ich hebe mich nun ebenfalls aus dem Sattel. Gut, dass niemand hinter mir ist, mein Po sieht bestimmt blöd aus. Die Hose, die ich anhabe, ist merkwürdig geschnitten, sie ist um die Hüften aufgeplustert und erinnert mich immer an eine Clownshose. Eigentlich trage ich sie nur zu Hause, aber zum Radfahren ist sie total bequem.
»Deshalb ist es ja so peinlich«, stoÃe ich hervor, die Steigung beschleunigt meinen Atem.
Ich musste Kim von meiner Angst in dem verschlossenen Schulsaal erzählen. Ich möchte ihr so vieles erzählen. Doch was ich ihr auch anvertraue, ich muss immer wieder Sachen weglassen, Aussparungen machen. Wenn ich die Leichtigkeit nicht zerstören will, die ich spüre, sobald wir zusammen sind, muss ich über bestimmte Dinge schweigen.
»Und du meinst, diese Sandra ist dafür verantwortlich? Die, die scharf auf deinen Freund ist?«
»Ich glaube schon. Sie muss dem Lehrer
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