Nach dem Amok
verschwunden ist, bis es schlieÃlich wiederkam, bei Schneiders Rückkehr und mit Romys Erzählung über Sandras Verleumdungen, dann wieder mit den Beschimpfungen auf dem Schulhof, mit dem Eingeschlossensein, mit dem Verlust meines sicheren Ortes in Dr. Holtmanns Praxis. Immer wieder kommt es zurück.
»ScheiÃe!«, ruft Charlotte. »Mich kotzt das alles so dermaÃen an!«
Sie nimmt ihren Rucksack und läuft aus dem Raum. Ich würde am liebsten hinterherrennen, aber ich habe den Eindruck, dass es nicht die Ungerechtigkeit mir gegenüber ist, die Charlotte so wütend macht, sondern die Tatsache, dass sie durch das Problem, das andere mit meiner Existenz haben, immer wieder an die furchtbare Vergangenheit erinnert wird. Und damit hat sie letzten Endes ebenfalls ein Problem mit meiner Existenz, auch wenn sie das niemals so formulieren würde. Ich darf ihr jetzt nicht hinterherlaufen. Sie musste weg von der Zeichnung und weg von mir.
Die Salzmann löst sich aus der Schreckstarre, in der sie die letzten dreiÃig Sekunden verbracht hat, greift nach dem Schwamm, befeuchtet ihn am Waschbecken eilig mit Wasser, steht dann vor der zugeklappten Tafel und zögert.
»Geht runter in den Hof«, sagt sie. »Wir setzen den Unterricht drauÃen fort, es ist warm genug.«
Wir leisten ihrer Anweisung Folge, niemand sagt ein Wort. Charlotte ist nicht vor dem Saal, sie muss gleich nach ihrem Abgang ins Freie gelaufen sein, vielleicht befindet sie sich nicht einmal mehr auf dem Schulgelände. Ich bleibe vor dem Klassenzimmer auf dem Flur stehen, die anderen gehen nach unten und scheinen froh zu sein, dass ich ihnen nicht sofort folge. Je weiter sie auf den Treppen nach unten kommen, desto mehr beginnen sie damit, sich zu unterhalten, aus zwei Stimmen werden drei, vier, über fünf, über zehn. Leise, murmelnd, wie in einer Kirche oder in einer Bücherei.
Ich hocke mich auf den obersten Treppenabsatz. Die Saaltür steht offen. Drinnen höre ich die Salzmann herumlaufen, von einer Seite der Tafel zur anderen. Mit dem Geräusch ihrer Schuhabsätze auf dem Boden vermischt sich das Wischgeräusch des Schwamms, der alle Spuren tilgt. Die anderen verlassen jetzt das Schulgebäude, die Tür schlägt hinten an, weil jemand sie zu fest aufgestoÃen hat. Sobald sie drauÃen sind, werden ihre Stimmen lauter. Jeder, der durch die Tür nach drauÃen gelangt, scheint seine Stimme anzuheben, zwei Stimmen werden lauter, drei, vier, über fünf, über zehn. Ich kann sie trotz der gröÃeren Entfernung nun besser hören als vor ein paar Sekunden, als sie noch alle im Gebäude waren. Einer von ihnen lacht, und ich weià nicht, worüber. Das Lachen klingt befreit. Ich glaube nicht, dass sie mich auslachen. Sie sind einfach nur erleichtert, nicht mehr in meiner Nähe zu sein.
Später versucht Jannik, mich zu trösten, und ich tue so, als gelänge es ihm zumindest ein bisschen. Seit ich im Chemiesaal eingeschlossen war, gibt er sich groÃe Mühe, für mich da zu sein. In den Wochen davor dachte ich manchmal, dass er mich schon aufgegeben, dass er uns schon aufgegeben hat. Aber heute ist er tatsächlich mitgekommen zu meiner Sitzung bei Holtmann. Ich glaube, er will von Holtmann hören, wie man es anstellen muss, dass alles wieder so wird wie früher. Ich schaue in Janniks Augen und weiÃ, dass er sich genau das von Holtmann erhofft, eine Gebrauchsanweisung für die Rückkehr in ein unbeschwertes Miteinander. Ich möchte ihm so gern sagen, dass es auf diese Weise nicht funktionieren kann, dass es nie wieder so werden wird wie früher, aber ich will ihm nicht jede Hoffnung nehmen.
Das übernimmt Holtmann selbst.
»Du möchtest, dass es wieder so wird wie vor dem Amoklauf«, sagt er zu Jannik, der ihm gegenübersitzt. Heute ist Holtmann hinter seinem Schreibtisch geblieben, und ich überlege die ganze Zeit, wieso. Entweder meint er, Barrieren nur dann abbauen zu müssen, wenn er mit mir allein ist, oder er fühlt sich Jannik und mir nicht gewachsen. Wir sind zu zweit. Ein Psychotherapeut ist bedeutender als ein einzelner Patient. Aber zwei Patienten sind bedeutender als ein Psychotherapeut. Es tut mir gut, meinem gemeinsamen Auftreten mit Jannik eine solche Bedeutung beizumessen. Die Vorstellung, zu zweit mehr zu sein.
»Wenn schon alles andere sich verändert hat«, fährt Holtmann fort, »wenn schon
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