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Nach dem Amok

Titel: Nach dem Amok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myriam Keil
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ein Mädchen gestorben ist und dein bester Freund im Rollstuhl sitzt, dann soll wenigstens deine Beziehung wieder so sein wie vorher. Dir und Maike ist ja nichts passiert, denkst du, ihr habt noch eure funktionierenden Beine und alles andere, ihr seid nicht verletzt worden. Doch, das seid ihr! Ihr seid so schwer verletzt worden, dass eure Beziehung nie mehr so sein kann wie damals. Aber das passiert jeder Beziehung früher oder später einmal, und egal durch welche Ereignisse diese Veränderungen ausgelöst werden, sie müssen nicht das Ende der Beziehung bedeuten.«
    Jannik starrt Holtmann an und scheint nicht glauben zu können, dass der ihm kein Rezept für ein Zurück geben will. Ich richte meinen Blick auf das Foto, das wie immer von mir weggedreht auf Holtmanns Schreibtisch steht. Als Holtmann meinen Blick bemerkt, sieht er ebenfalls kurz dorthin, und ich möchte unbedingt erkennen, was er gerade sieht, ich schaue ihm direkt in die Augen, bis er sie auf mich richtet. Ich versuche, darin etwas von dem auszumachen, was er gerade wahrgenommen hat.
    Â»Aber ich kann nichts tun«, sagt Jannik. »Ich weiß einfach nicht, wie ich ihr helfen soll.«
    Â»Du hast zu hohe Ansprüche an eine solche Hilfe. Du kannst Maike nicht ihren Schmerz nehmen, genauso wenig wie sie dir deinen nehmen kann. Aber ihr könnt euch gegenseitig unterstützen, einander ein Halt sein. Es gibt ein paar Entspannungsübungen, die ich dir zeigen kann, die könnt ihr dann gemeinsam machen. Es wird euch helfen, etwas gemeinsam zu machen, was euch beiden guttut.«
    Ich weiß immer noch nicht, was auf dem Foto ist.
    Â»Sie hat sich in den Kopf gesetzt«, verkündet Jannik, ohne mich anzusehen, »die Umstände, die ihren Bruder zu dem Amoklauf gebracht haben, aufzuklären. Nicht mal die Polizei hat das geschafft. Und jetzt macht sie sich damit verrückt.«
    Â»Davon weiß ich gar nichts!«
    Holtmann scheint überaus irritiert angesichts der Tatsache, dass ich ihm etwas verschwiegen habe. Eigentlich müsste er als Psychologe doch wissen, dass Patienten das ständig tun. Dass ich es ständig tue, weil ich ihm nicht vertraue. Wie sollte ich auch, wo mir sein neunmalkluges Geschwätz doch überhaupt nicht weiterhilft! Nicht mal seine blöden Übungen gelingen bei mir!
    Â»Ich muss Ihnen ja auch nicht alles erzählen!«, blaffe ich Holtmann an. Dann knöpfe ich mir Jannik vor: »Und wenn du weiterhin in der dritten Person über mich redest, während ich neben dir sitze, dann gehe ich! Du kannst gern eine Einzelsitzung haben, du scheinst sie zu brauchen!«
    Ich möchte all diese Dinge eigentlich gar nicht sagen. Nicht, nachdem Jannik sich solche Mühe gibt, mir beizustehen. Nicht, nachdem ich dafür mitverantwortlich bin, dass Felix nicht mehr laufen kann, weil ich nicht gemerkt habe, dass mein eigener Bruder den Verstand verloren hatte.
    Die Sitzung endet wie fast jede meiner Sitzungen; zu früh und für Holtmann mit einem unbefriedigenden Ergebnis. Was ich selbst mir von den Sitzungen erhoffe, darüber denke ich schon lange nicht mehr nach. Am Anfang war ich trotz meines Schockzustands von einem gewissen Tatendrang erfüllt gewesen, ähnlich wie Jannik heute. Holtmann sollte mein Retter sein, er sollte mir jenen Weg zeigen, den ich nicht mehr sah. Aber ich habe schnell begriffen, dass er niemanden retten kann.
    Ich beuge mich nach vorn, greife nach dem Foto und betrachte endlich seine Vorderseite.
    Jannik redet nicht. Den ganzen Heimweg über sagt er kein Wort, als habe er alle Worte bereits bei Holtmann verbraucht. Ich würde gerne etwas sagen, mich entschuldigen für alles. Nicht nur bei Jannik. Auch bei Charlotte, weil ich sie neulich Charly genannt habe und sie damit an eine Verpflichtung mir gegenüber erinnert habe, an eine Loyalität, die einer ehemals begonnenen Freundschaft geschuldet ist, die ich aber eigentlich gar nicht verdient habe. Auch bei Romy möchte ich mich entschuldigen, die wieder Stress mit Marc hat, weil man einfach nicht mit jemandem befreundet sein kann, der allen unheimlich geworden ist. Das geht nicht, hat Marc gesagt. Vielleicht später wieder, wenn wir alle die Sache verdaut haben. Verdaut, dachte ich, als Romy es mir erzählte. Die ganze Schule verdauen, einfach so, das müsste man. Magensäure drüberspucken, bis sie in sich zusammensackt und verschwindet. Genau das will ich. Und David wollte

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