Nach dem Amok
dem Wasser, schnappt sich die Unterwäsche, zieht sie beim Laufen umständlich an und folgt mir. Ohne Schuhe kommt sie allerdings nicht besonders schnell voran. Ich knote die Hose an den Ast eines Baumes und das Shirt ein Stück weiter an einen anderen Baum. Kim sammelt ihre Sachen ein und zittert dabei wie Espenlaub. Auch nachdem sie bis auf Schuhe und Socken wieder vollständig angezogen ist, ändert sich nichts daran.
»Du bist so bescheuert«, sagt sie und klappert mit den Zähnen.
»Kriegst gleich meine Jacke«, verspreche ich und habe mittlerweile ein richtig schlechtes Gewissen.
»Trag mich zurück!«, befiehlt sie und springt auf meinen Rücken. Sie lacht schon wieder, obwohl sie immer noch zittert.
Am Abend hat Papa sein misstrauisches Gesicht aufgesetzt. Er hat Mama damit angesteckt, beide stehen in der Küche, als ich heimkomme. Sie werfen sich einen Blick zu. Jeder von ihnen scheint zu hoffen, dass der andere anfängt.
»Wer ist denn diese Kim?«, überwindet sich schlieÃlich Papa. »Wir wissen kaum etwas über sie. Du erzählst ja nichts.«
Früher haben sie meine Freunde akzeptiert, ohne nachzufragen. Sie wussten, ich würde neue Freunde schon bald mit nach Hause bringen, sie würden sie kennenlernen, ohne darum bitten zu müssen. Bei Kim dauert es ihnen zu lange. Das kommt einerseits daher, dass ich Kim nicht hierher bringen möchte. Und es kommt auch daher, dass die beiden, anders als früher, jetzt immer gleich das Schlimmste befürchten.
»Sie ist ein Vampir«, sage ich und nehme mir ein paar Scheiben Salami aus dem Kühlschrank.
»Sag mal, machst du das mit Absicht?«
»Was denn?«, frage ich kauend.
»Uns so aufregen! Es ist doch wohl nicht zu viel verlangt, dass du uns Bescheid sagst, mit wem du unterwegs bist! Jannik kennt dieses Mädchen auch nicht.«
»Ihr habt mit Jannik über sie gesprochen?«
»Viel zu sprechen gab es da nicht. Offenbar redest du mit niemandem über sie.«
Jetzt erst recht nicht, denke ich und schlucke zerkauten Salamibrei herunter. Wenn ihr rumschnüffeln müsst, bevor ihr euch an mich wendet, dann wundert euch nicht, wenn ihr nachher von mir nichts erfahrt.
»Wie hast du sie überhaupt kennengelernt?«, fragt Mama.
»Durch Zufall, beim Rumlaufen in der Stadt.«
»Beim Rumlaufen in der Stadt«, wiederholt Papa. »Das ist auch so etwas. Neuerdings verschwindest du immer und sagst nur, dass du ein bisschen rumlaufen willst. Wir wissen weder, wo du dich dann aufhältst, noch mit wem. Jannik sagt, er weià häufig auch nicht, wo du bist. Du willst anscheinend oft allein sein.«
»Verdammt, habt ihr mit Jannik ein komplettes Interview geführt?«
»Du redest ja nicht mehr mit uns!«, ruft Mama, dann heult sie los. Inzwischen endet jedes Gespräch mit ihr auf diese Weise.
»Ihr mit mir doch auch nicht!«, brülle ich und renne in mein Zimmer.
Ihr Geheule bohrt sich durch die Tür hindurch. Ich schalte die Musikanlage ein und drehe den Lautstärkeregler hoch, bis ich das Gejammer nicht mehr höre. Wenn jetzt einer von ihnen in mein Zimmer kommt und sich über die Lautstärke der Musik beschwert, kann ich für absolut nichts mehr garantieren.
21
Es ist eine von den Tafeln, die man auf- und zuklappen kann. Die Seitenteile haben bis eben noch über dem Mittelteil gelegen, haben das Bild unter Verschluss gehalten, das nun für alle sichtbar in den Raum getragen wird. Amokschwester steht da unter einer Karikatur, einer zusammengekrümmten Gestalt, die unter einem Tisch kauert. Jedem im Saal ist klar, worauf angespielt wird. Ich weiÃ, dass alle es wissen, alle starren mich an, und ich kann nur auf die Tafel starren, die von der Salzmann längst wieder zugeklappt worden ist, als lieÃe sich dadurch das Gesehene vergessen, einfach wieder wegdenken, raus aus den über zwanzig Köpfen.
»Das war keiner von uns«, sagt Sascha, dann schaut er sich in der Klasse um. »Das war doch keiner von uns?«, wiederholt er unsicher, mit diesem einen zusätzlichen Wort, doch , und mit angehobener Stimme am Ende des Satzes. Jetzt ist es eine Frage.
Niemand antwortet ihm. Hinter meiner Stirn ist alles ganz leicht geworden, als hätte ich zu viel Alkohol getrunken, dieses wattige Gefühl, das ich in den ersten Wochen nach Davids Tat ständig hatte, Tag und Nacht, und das dann allmählich
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