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Nach dem Amok

Titel: Nach dem Amok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myriam Keil
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offensichtlich. Er steht noch einmal auf und rückt einige Schulbänke an die Tür. Ob das im Ernstfall etwas nutzen würde, ist fraglich, aber ich versuche, an den Nutzen zu glauben. Wir alle versuchen das.
    Ich weiß nicht, wie lange wir so auf dem Boden hocken. Irgendwann höre ich ein Martinshorn, dann ein zweites und noch weitere. Das Knallen hat sich nicht mehr wiederholt. Meine Beine sind gefühllos, als ich aufstehe.
    Einen Moment später stehe ich auf dem Flur und weiß nicht, wie ich dort hingekommen bin. Polizisten und Schüler stolpern durcheinander, die sonst so vertrauten Dinge – grüne Türen, helle Flurfenster, weiß gestrichene Wände –fließen konturenlos an mir vorbei. Ich blicke durch die Scheiben der Flurfenster auf den Hof hinunter, auf den Menschenauflauf dort unten, die Polizeiautos und Rettungswagen. Ich kann nicht alles überblicken und trete näher an die Scheibe heran. Ein Polizist legt seine Hand auf meine Schulter und dirigiert mich wieder auf den richtigen Weg zurück, den Weg nach draußen.
    Die Treppe komme ich nur hinunter, weil ich mich am Geländer festhalte. Meine Beine sind immer noch gefühllos und machen den Eindruck, als würden sie jeden Augenblick unter mir wegknicken. Nach den ersten beiden Treppen bleibe ich stehen. Ich bin jetzt im ersten Stock. Von der Treppe aus kann ich einen Blick in den Flur werfen, in dem sich die Kunstsäle befinden. Auf dem Flur sehe ich jemanden liegen, der sich nicht bewegt, aber ich kann nichts Genaues erkennen, denn um die Gestalt herum stehen Polizisten und Sanitäter. Sanitäter, die nichts mehr tun.
    Als ich den Pausenhof betrete, sehe ich einen Rettungswagen wegfahren. Da sind noch weitere Verletzte, darunter Schneider, der auf einer Trage liegt. Sein helles Hemd ist an der Schulter nass und rot. Er zittert so stark, dass ich es aus ein paar Metern Entfernung noch sehen kann. Sein Gesicht ist bleich und glänzend wie das einer Wachsfigur. Ist nicht schlimm, sagt ein Sanitäter, glatter Durchschuss. Er sagt es nicht zu mir, trotzdem möchte ich zu ihm hingehen und fragen, was denn schlimm ist, wenn ein glatter Durchschuss es nicht ist. Aber ich gehe nicht zu ihm. Der Sanitäter beugt sich über Schneider, um einen provisorischen Verband anzulegen.
    Â»Maike!«, ruft jemand.
    Jannik läuft auf mich zu, schlingt die Arme um mich und presst den Kopf an meine Schulter.
    Â»Felix ist angeschossen worden«, stammelt er.
    Ich streiche mit der rechten Hand durch seine Haare. Ich verstehe das alles nicht. Es macht einfach keinen Sinn.
    Dann bin ich im Krankenhaus. Wieder weiß ich nicht, wie ich an diesen neuen Ort gekommen bin oder wie viel Zeit vergangen ist. Ich glaube, ich habe eine Spritze bekommen, aber ich bin mir nicht sicher. Ich kremple beide Ärmel hoch, um nach einem Einstich in der Armbeuge zu suchen, aber alles verschwimmt vor meinen Augen, ich kann nichts erkennen.
    Â»Felix wird operiert«, sagt Jannik leise. »Seine Eltern sagen, der Arzt hätte gemeint, es sähe nicht gut aus.«
    Dann ist es bestimmt kein glatter Durchschuss, denke ich. Der Gedanke ist absurd, und das ist mir auch bewusst, trotzdem lässt er mich für die nächsten Minuten nicht los.
    Meine Mutter kommt den Flur entlang, mein Vater ein Stück hinter ihr, und da sind auch wieder Polizisten. Sind sie die ganze Zeit über hier gewesen? Ich kann mich nicht erinnern. Meine Eltern bleiben vor mir stehen, mein Vater legt den Arm um meine Mutter, die Geste wirkt hilflos, meine Mutter ist wie ein Stück Holz in seinem Arm.
    Â»David ist tot«, sagt sie.
    Ihre Stimme klingt kaum anders als sonst, und ich glaube, mich verhört zu haben. Es ist offensichtlich, dass ich mich verhört haben muss. Trotzdem erschrecke ich, weil ich bisher nicht einen einzigen Moment lang daran gedacht habe, dass David bei der Schießerei etwas passiert sein könnte. Seltsam kommt mir diese Gedankenlosigkeit jetzt vor. Er war ja auch in der Schule, warum habe ich mir keine Sorgen um ihn gemacht?
    Â»Er ist tot?«, wiederholt Jannik fassungslos.
    Mein Vater will etwas erwidern.
    Â»Quatsch«, komme ich ihm zuvor. »David geht’s gut. Wo habt ihr ihn denn gelassen?«
    Â»Maike«, sagt mein Vater. Er sieht so furchtbar erschöpft aus.
    Â»Nein!«, schreie ich. »David hat ganz woanders Unterricht gehabt. Ihm ist nichts passiert!«
    Â»Maike, du verstehst

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