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Nach dem Amok

Titel: Nach dem Amok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myriam Keil
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Übertreibungen ausschmücken.
    Als Reinhardt fast bei unserer Saaltür angekommen ist, gibt es einen unglaublichen Knall. Ich zucke zusammen, ich sehe Pia zusammenzucken, Markus, Lenny. Reinhardt bleibt wie angewurzelt stehen. Es knallt noch zwei Mal, kurz hintereinander. Ein Knallen, wie wenn im Herbst die Stare von den Weinbergen aufgescheucht werden.
    Â»Das kann nicht sein«, sagt Charlotte neben mir, ganz ruhig und sachlich sagt sie es.
    Ich denke noch immer an Stare. Ich möchte an nichts anderes denken, möchte nicht daran denken, was dieses Knallen hier in der Schule bedeuten könnte. Die Geräusche im Stockwerk unter uns sind danach gar nicht sehr viel anders als davor. Ich glaube, ich weiß jetzt, wieso sie mir gleich so ungewöhnlich erschienen sind. Weil sie keinen Sinn machten. Nicht hier, nicht in meiner Schule. In dem Geschrei lag Panik. Panik, die auch jetzt noch zu hören ist.
    In Reinhardts Körper kommt wieder Bewegung, er läuft die letzten paar Schritte auf die Tür zu und schließt den Chemiesaal von innen ab. Es dauert lange, bis er den Schlüssel ins Schloss bekommt. Er dreht ihn zwei Mal herum, mehr geht nicht, aber er braucht eine Weile, bis er das akzeptiert. Es klickt jedes Mal, sobald der Schlüssel den Endpunkt erreicht. Immer wieder dieses Klicken. Ich halte mir die Ohren zu, ich höre mein Atmen, ich höre es in meinem Kopf. Ich nehme meine Hände wieder von den Ohren.
    Erst als das Knallen von unten erneut anfängt, lässt Reinhardt von der Tür ab. Er geht rückwärts, stolpert, fängt sich wieder. Unten wird irgendein schwerer Gegenstand umgestoßen.
    Â»Bleibt ruhig«, sagt Reinhardt.
    Es war überflüssig, das zu sagen, weil keiner von uns einen Laut von sich gegeben hat. Mein Arm tut weh, und erst jetzt merke ich, dass Charlotte sich daran festkrallt, ihre Fingernägel bohren sich durch den Stoff meines Pullis, so fest ist ihr Griff. Der Arm fühlt sich an, als würde er nicht mehr zu mir gehören.
    Lena fängt an zu schluchzen. Das ist wie ein Signal für uns alle, die Starre im Raum löst sich. Einige jammern ebenfalls los oder kauern sich unter ihre Bänke. Ich nehme Charlotte den Arm weg, nur um zu merken, dass ich ohne den Kontakt zu ihr nicht sein kann. Wir klammern uns erneut aneinander fest. Lukas steht auf.
    Â»Weg vom Fenster, Lukas!«, zischt Reinhardt.
    Lukas reagiert nicht, und Reinhardt läuft zu ihm, zieht ihn auf die andere Seite des Raumes, die fensterlose Seite. Er hält Lukas weiterhin fest. Lukas lässt es geschehen.
    Â»Alle weg von den Fenstern und der Tür!«, keucht Reinhardt, und ich überlege, was vor den Fenstern Gefährliches sein könnte. Das Knallen war doch im Gebäude und der Ausgang aus dem Gebäude führt zum auf der anderen Seite gelegenen Pausenhof. Warum kann ich noch so klar denken? Kann ich es überhaupt noch oder glaube ich nur, es zu können? Ich rieche Charlottes Schweiß, er riecht streng und säuerlich.
    Â»Aber vielleicht können wir ja durch ein Fenster raus«, sagt Lukas. »Gibt doch bestimmt eine Feuerleiter.«
    Alle starren ihn an, ich ebenfalls. Ich will nicht über eine Feuerleiter ins Ungewisse klettern, an anderen Fenstern vorbei, hinter denen sich sonst was befinden könnte. Genausowenig allerdings will ich hierbleiben.
    Â»Niemand geht irgendwohin!«, bestimmt Reinhardt.
    Er nimmt seine Aktentasche vom Boden, stellt sie aufs Pult und durchsucht sie hektisch nach etwas, das er jedoch nicht findet.
    Â»Hat jemand ein Handy?«
    Pia, Fabian und Deniz halten ihm ihre Handys entgegen, Reinhardt scheint für den Bruchteil einer Sekunde mit der Auswahl überfordert, greift schließlich aber nach dem nächstbesten. Er wählt, und die Sekunden, in denen er das Handy am Ohr hält, ohne etwas zu sagen, erscheinen mir grotesk ausgedehnt. Er muss sich dann bemühen, langsam und verständlich zu sprechen. Nach dem Ende des Gesprächs legt er nicht auf. Ich vermute, dass man ihm gesagt hat, er solle weiterhin in der Leitung bleiben.
    Â»Sie wussten schon Bescheid«, sagt er zu uns. »Die Polizei ist unterwegs, gleich kommt Hilfe.«
    Wir kauern uns alle nebeneinander auf den Boden, ohne dass jemand uns dazu aufgefordert hätte. Jeder möchte einen anderen zum eigenen Schutz vor sich haben. Selbst Reinhardt muss sich dazu zwingen, sich nicht hinter einem von uns zu verschanzen, das ist

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