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Nach dem Amok

Titel: Nach dem Amok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myriam Keil
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nicht!« Mein Vater ist jetzt auch laut geworden.
    Â»Ihm ist nichts passiert!«
    Â» Er war es! Es war David, er hat geschossen!«, schreit er mir ins Gesicht, dann fängt er an zu weinen.
    Meine Mutter wendet sich ab und geht den Flur wieder ein Stück zurück, sie wird auf absurde Weise kleiner und kleiner, und ich wundere mich, warum sie nicht komplett verschwindet.
    Ich liege im Bett, mein Pyjama ist völlig durchgeschwitzt. Es dauert einige Sekunden, bis ich begreife, dass es ein Traum gewesen ist. Diese Sekunden sind schlimmer als der Traum selbst: die Gewissheit, dass ich mich gerade mitten in einem albtraumhaften Geschehen befinde, aber ohne den wattigen Schutz des Traumes. In diesen paar Sekunden ist es wieder reale Gegenwart.
    Vor dem Einschlafen nehme ich mir immer vor, das Szenario als Traum zu erkennen, wenn es wieder so weit ist. Es ist mir noch nie gelungen. Ich träume diesen einen Tag seit zwei Monaten in beinahe jeder Nacht. Dann wache ich auf, fühle mich für ein paar Sekunden in einer schrecklichen Realität gefangen und muss danach meinen durchgeschwitzten Pyjama wechseln. Das alles ist schon fast zur Gewohnheit geworden und bleibt dennoch etwas, an das ich mich nie gewöhnen werde.
    Ich habe David nicht erkannt, als ich ihn beim Herabgehen der Treppe im Flur vor den Kunstsälen habe liegen sehen. Ich habe sein Gesicht nicht gesehen und nicht verstanden, dass dieser Körper seiner war. Auch in den Träumen erkenne ich ihn nie. Selbst in meiner Erinnerung, wenn ich wach bin, sehe ich ihn nicht. Ich weiß, dass er dort auf dem Boden gelegen haben muss, ein regloses Bündel, eine lebensgroße Puppe. Ich weiß, dass ich nicht begriffen habe, dass er es war. Dass ich es bis heute nicht begreife.
    Ich gehe jedes Mal weiter, ohne ihn erkannt zu haben.

5
    Janniks Vater öffnet mir die Tür.
    Â»Ist Maike«, ruft er über seine Schulter nach hinten in die Wohnung.
    Dann nickt er mir zu, was bedeutet, dass ich hereinkommen soll, dreht sich um und verschwindet durch die Diele. Er bittet mich schon lange nicht mehr mit Worten herein, weil klar ist, dass ich die Zugangsberechtigung zur Wohnung habe. Nur in der letzten Zeit erscheint mir sein Nicken nicht mehr wie ein Willkommensgruß, sondern als ob er keine andere Wahl hätte. Wie ein Vampir komme ich mir vor, dem er irgendwann einmal unvorsichtigerweise erlaubt hat, sein Haus zu betreten, und den er nun nicht mehr loswird.
    Ich mache einen Schritt über die Türschwelle, die mir neuerdings immer wie ein Hindernis vorkommt, und schließe die Wohnungstür hinter mir. Niemand ist zu sehen. Aus der Küche kommen Geräusche. Ich will gleich zu Janniks Zimmer durchgehen und notfalls dort warten, falls er gerade in einem anderen Raum sein sollte, denn ich möchte seiner Mutter nicht über den Weg laufen. Doch als ich an der Küche vorbeigehe, sehe ich sie an der Spüle stehen und Geschirr abtrocknen. Und sie sieht mich.
    Â»Hallo, Maike.«
    Sie streift die Spülhandschuhe ab und legt das Geschirrtuch zur Seite.
    Â»Hallo«, sage ich. »Jannik hat angerufen und gesagt, er sei schon mit den Hausaufgaben fertig.«
    Es kommt mir vor, als müsse ich mein Erscheinen rechtfertigen. Was ich bei Janniks Vater nur latent spüre, ist bei seiner Mutter offensichtlicher. Sie findet es schrecklich, dass die Freundin ihres Sohnes einen Bruder hatte, der so viel Leid über dermaßen viele Menschen gebracht hat. Sie weiß genau, dass Jannik wegen mir zwischen allen Stühlen sitzt. Ich sehe an ihrem Gesicht, dass sie genau das denkt. Sie denkt auch, dass ich nichts für die Situation kann, aber das macht es nicht besser, es ändert gar nichts.
    Â»Wie geht es dir, Maike?«
    Das Schlimmste ist, dass sie bei alledem versucht, fair und verständnisvoll zu bleiben.
    Â»Ganz okay.«
    Â»Und deinen Eltern?«
    Es sind immer die gleichen Fragen, die sie Woche für Woche wiederholt, als habe sie ein eingebautes Uhrwerk, das sie daran erinnert, die Abstände zwischen diesen Gesprächen mit mir möglichst konstant zu halten.
    Â»Es geht so. Sie sprechen nicht viel mit mir darüber.«
    Â»Ist vielleicht besser so«, sagt sie. »Das Reden reißt nur immer wieder die Wunden auf.«
    Â»Hm. Also, ich gehe dann mal zu Jannik.«
    Â»Er leidet mehr, als er dir gegenüber zugeben will. Das mit Felix ist für ihn ganz schlimm. Ihr müsst jetzt füreinander

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