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Nach dem Amok

Titel: Nach dem Amok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myriam Keil
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ihn, nein, sie hält sich an ihm fest. Siehst du das, möchte ich zu Jannik sagen, aber da erreichen wir bereits das Haus. Ich steige vom Rad, nehme ein Paar neugierige Nachbarsaugen hinter einem der Fenster im ersten Stock wahr, und jetzt lässt sie ihn los, reißt mich an sich und weint, weint, und da bemerke ich es, sie riecht immer noch ganz genauso wie früher, unter dem Weinen, unter der Trostlosigkeit und all dem, was sich seit damals verändert hat. Vielleicht ist das der Weg, mit dem Amoklauf umzugehen: Wir müssen die Dinge finden, die sich nicht verändert haben. Jannik, der neben uns steht, weiß offenbar nicht, was er tun soll. Papa scheint sich zuerst auch nicht sicher zu sein, doch dann wendet er sich Jannik zu.
    Â»Danke«, sagt er und klopft ihm auf die Schulter.
    Schließlich umarmt er Mama und mich, etwas unbeholfen, aber irgendwie beschützend, und ich wundere mich, wie es sein kann, dass wir beide zusammen in seine Arme hineinpassen, wo ich mir doch gerade so seltsam groß und sperrig vorkomme.
    Nach einer Weile lassen wir einander los und sofort drängen sich wieder die letzten Monate zwischen uns. Wir alle spüren die Distanz. Ich stelle mich auf eine Standpauke ein, die dann auch halbherzig erfolgt, nachdem wir hochgegangen sind, nachdem das Treppenhaus und die Öffentlichkeit hinter uns liegen. Wenn jemand weggelaufen ist, muss man schimpfen.
    Und dann wieder umarmen und weinen. Das alles überfordert mich total, dieses Hin und Her, dass keiner von uns weiß, wohin das alles geht, diese widersprüchlichen Gefühle und Ausbrüche. Nur Jannik scheint den Überblick zu behalten, er nimmt Papa zur Seite und flüstert ihm kurz etwas zu, danach scheint Papa gefasster zu sein.
    Wann ist das passiert, wann ist Jannik so erwachsen geworden?
    Â»Wir sollten uns jetzt alle beruhigen«, sagt Papa.
    Mama nickt, es ist ein schnelles, wildes Nicken, wie um zu verinnerlichen, dass er recht hat mit dem, was er sagt, dass man unbedingt ruhiger werden sollte. Aber wirklich beruhigen kann sie sich nicht.
    Â»Hast du Hunger?«, fragt sie mich hektisch.
    Eine obligatorische Mutterfrage, vielleicht auch eine Übersprungshandlung. Ich bin froh über diese Frage, sie hilft mir, ihr Verhalten zu deuten, klare Linien zu finden bei dem, was hier passiert. Auf diese Weise fühle ich mich weniger überfordert mit der Situation. Dennoch schüttele ich den Kopf. Mein Magen ist wie zugeschnürt. Sie umarmt mich noch einmal.
    Wir setzen uns alle auf das Sofa und halten jetzt Abstand zueinander. Ich warte auf eine zweite Standpauke, aber sie sind viel zu froh, mich wiederzuhaben. Ein schlechtes Gewissen beschleicht mich, und zum ersten Mal seit langer Zeit erscheint es mir als ein angebrachtes schlechtes Gewissen, weil es nicht daher rührt, dass ich etwas eingefordert habe, was mir zusteht, aber nicht gewährt wird – ein Gespräch beispielsweise, das mit Weinen abgeblockt wird –, sondern weil ich dieses Mal mit meinem Handeln ihnen allen unüberlegt und rücksichtslos wehgetan habe.
    Jannik nimmt meine Hand.
    Â»Es tut mir leid«, sage ich zu meinen Eltern, und das sind die ersten Worte, die ich mit ihnen spreche.
    Â»Uns tut es auch leid«, sagt Papa.
    Wir können beide nicht sagen, was uns leidtut, das schaffen wir nicht. Trotzdem bin ich froh, es ausgesprochen zu haben, und Papa scheint auch erleichtert zu sein, obwohl wir danach wieder nicht wissen, was wir sagen sollen.
    Â»Kim ist übrigens in Ordnung«, teilt Mama schließlich mit.
    Ich merke, dass sie mir damit entgegenkommen möchte, doch der Satz klingt, als würde man den Zustand eines Möbelstücks beschreiben.
    Â»Ja, aber ich glaube, ich habe es mir mit ihr verscherzt.«
    Â»Den Eindruck hatte ich nicht«, sagt Jannik. »Sie meinte, sie könnte verstehen, warum du ihr nicht erzählt hast, wer du bist. Und es hätte ja auch sein Gutes, auf diese Weise hätte sie dich kennenlernen können, ohne voreingenommen zu sein.«
    Das ist so typisch Kim. Sie findet immer das Gute an den Dingen. Selbst in den Fehlern der Menschen sieht sie das Gute.
    Â»Du kannst mit uns über alles reden«, sagt Papa. »Ab jetzt wirklich über alles.«
    Ich bemerke, dass seine Hände zittern. Es ist ein ganz schwaches Zittern, und ich frage mich, wie viel ich ihm zumuten darf. Vielleicht kann er bestimmte Fragen einfach nicht verkraften, selbst wenn er

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