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Nach dem Amok

Titel: Nach dem Amok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myriam Keil
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genommen hat, wie sie ihr tröstend übers Haar gestrichen hat, und ich denke daran, dass meine Eltern noch vor Kurzem Janniks Eltern als »fremde Leute« bezeichnet haben. Kims Eltern, sagte er, hätten daneben gestanden und nicht gewusst, wie sie sich verhalten sollten. Sie seien besorgt gewesen, aber auch überfordert mit der Situation; ein verschwundenes Mädchen, das sie erst seit einigen Wochen kennen und das ihnen vor seinem Verschwinden eröffnet hat, die Schwester eines Amokläufers zu sein, und dann dessen Eltern, denen sie nun gegenübertreten mussten, den Eltern eines Amokläufers. All das habe er an ihren Gesichtern ablesen können, hat Jannik behauptet, und ich kann mir sogar vorstellen, dass er recht damit hat, dass es tatsächlich in ihren Gesichtern geschrieben stand. Und plötzlich kommt mir der Gedanke, wie seltsam es ist, dass wir alle keine Geschwister haben, Jannik, Kim und ich. Ist man ein Einzelkind, wenn man früher mal einen Bruder hatte?
    Ich bemerke, dass Jannik mich beim Fahren immer wieder ansieht, als würde er über etwas nachdenken. Zuerst glaube ich, es hätte noch mit Felix zu tun, doch dann berührt seine Hand kurz meine Schulter, und ich weiß, es geht um mich.
    Â»Wegen dieser drei Typen, die David erpresst haben, solltest du unbedingt zur Polizei gehen.«
    Â»Aber ich habe doch überhaupt keine Beweise.«
    Â»Du hast den Blog. Und Nicole und ihr Bruder wissen, was passiert ist, sie können als Zeugen aussagen.«
    Â»Nicole will in nichts reingezogen werden.«
    Â»Sorry, aber darauf kann man keine Rücksicht nehmen. Es geht schließlich auch um andere Schüler, die möglicherweise immer noch von denen tyrannisiert werden.«
    Â»Sie wird vielleicht die Aussage verweigern.«
    Â»Abwarten. Wenn die Polizei sie vernimmt …«
    Â»Das würde sie mir nie verzeihen.«
    Â»Sie mag dich doch sowieso nicht besonders, oder?«
    Â»Da hast du allerdings recht.«
    Â»Und ihr Bruder scheint ganz vernünftig zu sein, so wie du ihn beschrieben hast. Vielleicht kann er Einfluss auf sie nehmen. Möglicherweise reicht seine Aussage allein aber auch schon aus, damit die Polizei anfängt zu ermitteln.«
    Mein Vorderrad kollidiert mit einem etwas größeren Schotterstein, der ihm einen Schubs nach links verpasst. Ich kann den Stoß abfangen. Als der Stein vom Reifen zur Seite geschnippt wird, entsteht ein ploppendes Geräusch, das mich an die Schüsse mit Schalldämpfer erinnert, die man oft im Fernsehen zu hören bekommt. Es klingt ganz anders als Davids Schüsse, aber es klingt dennoch wie ein Schuss.
    Â»Okay«, sage ich. »Ich gehe zur Polizei. Aber nur, wenn du mitkommst.«
    Â»Ich lasse dich dabei nicht allein.«
    Dann schweigen wir wieder eine Zeitlang. Es kommt immer näher. Immer näher, und ich weiß nicht, was es sein wird. Gestern war Dienstag. In der Schule haben natürlich alle möglichen Leute mitbekommen, dass ich abgehauen bin, Jannik hat mit der Clique darüber gesprochen, selbst Nicole hatte es ja von irgendwoher gehört, vielleicht war sogar die Polizei schon in der Schule und hat irgendwelche Schüler und Lehrer befragt. Nicht zu vergessen meine Eltern. Wie soll ich all diesen Menschen gegenübertreten? Was werden sie sagen? Werden sie mir Vorwürfe machen, werden sie weinen, mich anschreien …? Es gibt so viele Möglichkeiten, wie diese Begegnungen ablaufen könnten.
    Auf dem letzten Teil der Strecke werden wir immer langsamer. Eigentlich bin ich diejenige, die immer langsamer wird, und Jannik passt sich meinem Tempo an. Er hat meinen Eltern unsere Ankunft für etwa elf Uhr angekündigt. Wir müssten uns eigentlich beeilen, um das zu schaffen.
    Â»Soll ich Bescheid sagen, dass es ein paar Minuten später wird?«, fragt er.
    Ich schüttele den Kopf und trete kräftiger in die Pedale. Die Stadt ist um uns herum angekommen. Aber wir noch nicht in der Stadt. Ich betrachte die Gebäude, die mir allmählich immer bekannter vorkommen, aber nicht vertrauter. Ich glaube, das mit dem Ankommen wird heute nicht mehr funktionieren.
    Sie stehen vor dem Haus. Es ist ein paar Minuten vor elf. Sie stehen da, und man sieht ihnen nicht an, dass sie sich in den letzten Monaten komplett voneinander entfremdet haben. Dort stehen ein Mann und eine Frau, nah beieinander, er hat den Arm um ihre Schultern gelegt und sie schmiegt sich an

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