Nach dem Amok
sie nur noch mehr. Ihr könnt sie mit Gewalt zurückholen, aber dann läuft sie euch morgen wieder davon. Ich bringe sie euch zurück. Das verspreche ich.
Jannik klingt bestimmt und erwachsen. Das scheint auch mein Vater zu bemerken, denn er willigt schlieÃlich ein.
»Vielleicht kommen sie trotzdem hergefahren«, gebe ich zu bedenken, nachdem Jannik aufgelegt hat.
»Selbst wenn. Es dauert mindestens eine Stunde, bis sie hier auftauchen können.«
Er legt sich wieder neben mich. Ich drehe mich zu ihm, sein Gesicht ist dicht an meinem. Ich küsse ihn. Ganz vorsichtig.
Das ist mein Mund.
Jannik zieht mit dem Finger eine Linie von meiner Schläfe hinunter bis zur Schulter, wandert über mein Schlüsselbein zu der Kuhle unter meinem Hals, der Ausschnitt meines T-Shirts hindert ihn am Weiterkommen.
Das ist meine Haut.
Wir küssen uns heftiger, er zieht mich auf sich, ich spüre seine Erektion.
Das ist mein Körper.
»Tut mir leid, ich weià ja, dass du nicht ⦠Und das ist wohl der unpassendste Zeitpunkt.«
Ich bringe ihn zum Schweigen, indem ich ihm den Zeigefinger auf den Mund lege. Meinen Zeigefinger. Wo kommt das plötzlich alles her, diese vielen Körperteile, die auf einmal wieder zu mir gehören, diese ganze Haut, die sich endlich wieder echt anfühlt, woher kommt das?
Ich ziehe Jannik das T-Shirt aus. Er macht bei mir nicht dasselbe, sondern wartet ab. Er ist so süÃ, so zurückhaltend, als könne er gar nicht glauben, dass es wirklich passiert. Dann streife ich mein eigenes T-Shirt über den Kopf. Ich überlege, ob ich in der letzten Zeit die Pille noch regelmäÃig genommen habe, und merke, dass ich das tatsächlich getan habe, ich habe meine Routinen fortgeführt, genauso wie meine Mutter die ihren. Ich verscheuche den Gedanken an meine Mutter aus meinem Kopf. Es ist nicht schwer, denn da ist Janniks warme, nackte Haut an meiner, seine Hände auf meinem Rücken, einfach überall. Ich will mit ihm schlafen. Jetzt will ich es. Ich flüstere es ihm ins Ohr.
Jannik schüttelt den Kopf.
»Heute nicht«, sagt er. »Nicht so.«
Er küsst sich von meinem Hals zu meinem Bauch hinunter, dann noch tiefer, bis er meinen Slip erreicht. Ich atme schneller, schlieÃe die Augen. Dann kann ich nicht mehr denken.
32
»Wolltest du hier überwintern?«, fragt Jannik am nächsten Morgen und deutet auf meine Essensvorräte.
Ich erzähle ihm von meinem Ausflug in den nächsten Ort, berichte ihm von den Hintergründen meines Sammeleinkaufs. Jannik schüttelt sich vor Lachen.
Wir frühstücken Sandwichs, Erdnüsse, Ãpfel und Cola. Dann brechen wir auf. Janniks Fahrrad ist nicht im besten Zustand, er benutzt es nur selten. Er hat mir erzählt, dass er gestern Abend erst eine halbe Stunde lang nach der Luftpumpe suchen musste, ehe er sich mit aufgepumpten Reifen auf den Weg hierher machen konnte.
»Felix kommt nächste Woche aus der Reha«, sagt er, als wir nebeneinanderher fahren.
Er tut sich schwer mit diesem Satz, weil klar ist, dass diese Worte die Stimmung zwischen uns verändern werden, die im Augenblick noch sehr schön ist, weil wir uns wiederhaben und weil alle Probleme, die zu Hause auf uns warten, noch zwei Stunden entfernt sind.
»Er wird die Schule wechseln«, fährt Jannik fort. »Seine Eltern ziehen mit ihm weg, in eine behindertengerechte Wohnung.«
»Das ist gut«, sage ich und schäme mich sofort dafür.
»Ich weià schon, wie duâs meinst«, entgegnet er. »Es ist wirklich für alle das Beste. Für ihn sowieso. Die Aussicht auf etwas Neues scheint ihm gutzutun. Ich bin mir bloà nicht sicher, welchen Platz ich in seinem neuen Leben noch habe.«
Eine Weile fahren wir schweigend nebeneinanderher. Ich denke an die vergangene Nacht, in der alles so vertraut war. Wird es auch noch so sein können, wenn wir wieder daheim sind? Jannik hat ausführlich geschildert, wie meine Eltern die ganze Stadt nach mir abgesucht haben. Sie sind zu sämtlichen Orten gefahren, die ihnen einfielen, dann zu denen, die Kim vorgeschlagen hat. Auch Jannik hat Vorschläge gemacht, die Hütte ist ihm erst ganz zum Schluss eingefallen, davon hat er keinem etwas gesagt, denn dorthin wollte er allein fahren, weil die Hütte unser Geheimnis behütet. Er hat erzählt, wie er mit seinen Eltern bei uns auftauchte und seine Mutter meine in den Arm
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