Nach dem Applaus: Ein Fall für Berlin und Wien (German Edition)
einen Moment von sich fernzuhalten. Es lief ein Interview mit dem Regierenden Bürgermeister. Ein Reporter versuchte sich als Stimme des Volkes: Warum wurden nur die großen Straßen vom Schnee geräumt? Warum waren auch sieben Wochen nach dem ersten Wintereinbruch Anfang Dezember die Nebenstraßen immer noch von einer dicken Schnee- und Eisschicht bedeckt? Warum mussten die Hauseigentümer nicht die Wege vor ihren Häusern räumen? War dem Bürgermeister bekannt, dass es in den Krankenhäusern kaum noch freie Plätze für die alten und auch jungen Leute gab, die ausgerutscht waren und sich etwas gebrochen hatten? Die Stimme des Reporters bebte vor Empörung.
Doch der Bürgermeister ließ die Fragen in seiner jovialen und bräsigen Art einfach abprallen. Er sage es ganz offen: Auch vor seinem Haus sei »Holiday on Ice« angesagt. Aber wenn die Natur mal richtig zeige, wozu sie fähig sei, könne auch die Berliner Stadtreinigung mit ihren bewährten Mitarbeitern nur bis zu einem gewissen Grade dagegensteuern. Er empfehle die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel. Was den Reporter zu einem Aufschrei brachte: Aber die S-Bahn fahre ja nur noch gelegentlich, die Weichen seien ständig eingefroren, es fehle an Bremssand, ganze Wagenreihen müssten wegen Wartungsfehlern aus dem Verkehr genommen werden. Ein Einwand, der den Bürgermeister nicht erschütterte. In diesem Falle müsse sich der Reporter an die Deutsche Bahn wenden. Ja aber, wandte der langsam erschöpft klingende Reporter ein, sei er als Bürgermeister für die katastrophale Lage politisch nicht verantwortlich?
»Junger Mann«, sagte der Bürgermeister, und Thomas Bernhardt hatte sich vorgestellt, wie der Bürgermeister sich zurücklehnte, sein unnachahmliches Grinsen aufsetzte und zu großer Form auflief: »Junger Mann, eins ist doch klar, und ich rate Ihnen und vielen anderen, das einfach zu akzeptieren: Berlin ist nicht Haiti.«
Thomas Bernhardt hatte sich kurz Cellarius zugewandt, der die ganze Zeit still neben ihm gesessen hatte. »Teflon-Wowi, oder? Hast du gehört, dass die Eröffnung des Flughafens Schönefeld zum fünften Mal verschoben worden ist? Juckt niemanden, alle lachen sich einen Ast. Ich liebe diese Stadt: Nix funktioniert, aber alles läuft. Irgendwie. Und dazu passt dieser Regierende Bürgermeister wie die Faust aufs Auge.«
»Was soll er machen? Das ist der härteste Winter, den ich je erlebt habe.«
»Und dann herrscht die Eiszeit? Wie sieht’s denn bei euch in Dahlem aus?«
Cellarius, der mit der Tochter eines großen Immobilienhändlers verheiratet war und in einer Villa in Dahlem lebte, zuckte unbehaglich mit den Schultern.
»Wir haben einen Winterdienst, die halten da alles frei.«
Thomas Bernhardt hätte wetten können, dass Cellarius rot geworden war. Aber es war zu dunkel im Auto, um das zu überprüfen.
Mit Mühe hatten sie eine Parklücke in der Kuno-Fischer-Straße, Ecke Suarezstraße, gefunden. Viele Autos waren in einem mit Splitt und Salz gepökelten Schneewall eingemauert, aus dem sie erst bei einer längeren Tauperiode herausgelangen würden. Bernhardt und Cellarius waren fluchend zu dem Haus geeiert. Sie fuhren mit dem Fahrstuhl nach oben in den vierten Stock. Alte Berliner Bürgerlichkeit. Die Fahrstuhltür aus Eisen war filigran geschmiedet, drinnen musste man zwei Holztüren mit blankpolierten Messingbeschlägen schließen, bevor man losfahren konnte. In der mit edlem Holz verkleideten Kabine gab es ein Bänkchen und einen Spiegel, der von Jugendstilornamenten und einem stilisierten Schwanenkopf umrahmt war. Auf einer Plakette stand »Baujahr 1909«. Leise ächzend, als klagte er über Altersschwäche, war der Fahrstuhl nach oben geruckelt.
Die Wohnung mit den glänzenden alten Eichendielen und den hohen Stuckdecken war sparsam möbliert, ein großer Holztisch, zwei Jugendstilstühle, ein Ohrensessel am Fenster, von dem man auf den Lietzensee schauen konnte. Mehrere Bücherstapel auf dem Boden. Bernhardt war auf Cornelia Karsunke zugegangen, die als Erste am Tatort eingetroffen war. Ihre schräggeschnittenen Augen, die ihr etwas rätselhaft Asiatisches gaben, weshalb er sie im Stillen und nur für sich »die Tatarin« nannte, waren gerötet und geschwollen. Sie war schlimm erkältet. Morgens im Kommissariat in der Keithstraße hätte ihr Bernhardt gerne die Hand auf die Schulter gelegt und gesagt: »Komm, geh nach Hause, kümmre dich um deine beiden Mädchen.« Die lagen, wie sie am Vortag erzählt hatte,
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