Nach dem Applaus: Ein Fall für Berlin und Wien (German Edition)
sich dann aber für den direkten Heimweg. Seine Wohnung im vierten Stock des Hinterhauses war eiskalt, an den Fenstern wucherten Eisblumen. Das hatte er seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen. Er schaltete die Gasetagenheizung an, die vor sich hin zischte. Es dauerte, bis die Heizkörper warm wurden. Als er sich mit einem Glas Rotwein an die Küchenwand lehnte, schauderte er vor Kälte. Eine Wohnung mit drei Außenwänden, die kühlte einfach zu stark aus. In den nächsten Tagen musste er die Heizung durchlaufen lassen.
Er trat auf den Balkon hinaus. Die Kälte drang in seine Bronchien, so dass er husten musste. Die Kastanie stand still wie ein riesiges weißes Ungeheuer im Hinterhof. Durch ihre Zweige spähte er in die Wohnung im Haus gegenüber. Warmes Licht. Aber die Frau, mit der er einst befreundet gewesen war, hatte Besuch. Sie beugte sich zu einem Mann hinunter und küsste ihn. Dann zog sie die Vorhänge zu, was sie früher nie gemacht hatte.
Thomas Bernhardt ging zurück in seine Wohnung, in der es kaum wärmer war als draußen. Er wollte gerade den Fernseher einschalten und sich ein Bier aufmachen, der Rotwein war ihm zu sauer, da klingelte das Telefon.
»Bei uns geht die Welt unter.« Wie gewohnt hielt sich Anna Habel nicht mit langwierigen Begrüßungsfloskeln auf.
»Guten Abend, meine Liebe. Inwiefern?«
»Nichts geht mehr. Die Straßenbahnen fahren nicht, die U-Bahnen sind knallvoll, und Taxis sind in der ganzen Stadt keine zu kriegen. Hier schneit es seit Tagen durch.«
»Ist doch schön, oder?«
»Ja, eh. Ein bisschen lästig halt auch.«
»Bei uns ist es auch nicht schlecht.«
»Ich bin die ganze Währinger Straße zu Fuß nach Hause gelaufen.«
»Na, ein bisschen Sport schadet dir ja nicht.«
»Wie meinst du das denn? Ich geh gleich Volleyball spielen, das würde dir auch guttun.«
»Ach, ich geh immer zu Fuß die Treppen hoch, das muss reichen. Und sonst, alles ruhig bei euch?«
»Ja, kaum was zu tun. Den Mördern ist das viel zu viel Schnee hier. Macht mir aber gar nichts aus. Weißt du was? Ich hab spontan beschlossen, mir nächste Woche freizunehmen. Überstundenabbau. Ich geh mit Florian Ski fahren.«
»Du hast es gut. Ich hab hier eine tote Schauspielerin. Die wird mich in den nächsten Tagen beschäftigen.«
»Berühmt?«
»Ich kannte sie nicht. Das heißt aber nicht viel.«
»Jetzt tu doch nicht immer so, als wenn du nicht lesen könntest. Wie hieß sie denn?«
»Lesen kann ich schon, aber keine Klatschzeitungen. Sophie Lechner. Hat auch in Wien gespielt.«
»Klar kennt man die. Ich hab sie sogar mal gesehen, als Ophelia im Hamlet . Ist allerdings schon ein wenig her.«
»Tja, diesmal ist sie nicht freiwillig aus dem Leben geschieden. Erstochen wurde sie. Oder besser gesagt, erdolcht.«
»Du wirst den Fall schon lösen, ich muss jetzt jedenfalls los.«
»Ja, widme du dich mal den wichtigen Dingen im Leben. Ich geh bald ins Bett, morgen muss ich mich wahrscheinlich mit lauter exaltierten Schauspielern rumschlagen, das wird hart.«
3
Als Anna in die nach kaltem Schweiß riechende Umkleidekabine kam, war Paula schon da und schälte sich aus ihren engen Jeans. »Na?«
»Selber na. Alles klar bei dir?«
»Ja. Stress wie immer. Zwei blöde Interviews, eine Pressekonferenz. Und wenn ich diesem Kanzler auch nur zwei Minuten gegenübersitze, hab ich das Gefühl, ich falle augenblicklich in den Tiefschlaf.«
»Das versteh ich. Ich schalt immer automatisch um, wenn ich ihn im Fernsehen seh.«
Annas Freundin Paula war Redakteurin beim Rundfunk, und nachdem sie sich in den Sparten Gesellschaft, Chronik und Wirtschaft abgearbeitet hatte, war sie endlich in der Königsdisziplin Politik angekommen, auch wenn’s da meist nicht viel spannender war.
»Und bei dir?«
»Voll ruhig. Kolonja hat Urlaub, und mein kleiner Motzko geht mir schon fast auf die Nerven mit seinem Diensteifer. Nächste Woche fahr ich in Skiurlaub. Kann ich mir zwar nicht leisten, aber das ist mir egal.«
»Wow, mit wem fährst du denn?«
»Na, mit Florian. Mit wem sonst?«
»Was ist denn mit deinen vielen Verehrern?«
»Ach, die können mich alle mal.«
»Komm schon, der Pathologe vom Wilhelminenspital wär doch eine gute Partie?«
»Für dich vielleicht. Der ist mir zu beflissen, den halt ich nicht aus.«
»Dann halt den grantigen Berliner Kommissar. Der sieht auch gar nicht schlecht aus.«
»Viel zu kompliziert. Außerdem kann der nicht mit mir Ski fahren, der hat eine tote Schauspielerin. Komm, wir
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