Nach dem Bankett.
eigentlich keine Veranlassung dazu. Es war mir lästig das war alles.«
Kazu konnte diese Antwort kaum fassen. »War mir lästig!« Das waren ofensichtlich die Worte eines Greises.
Vor dem Aufbruch
Nach diesem Telefongespräch trafen sich die beiden öfter. Kazu besuchte Noguchi sogar in seinem Haus. Er wohnte ganz allein in einem alten Gebäude im Shiina-Viertel, und Kazu war sehr beruhigt, als sie herausfand, daß das Mädchen, das ihn betreute, häßlich und nicht mehr ganz jung war. Nach einiger Zeit begann Kazu, sich auch um Noguchis Privatangelegenheiten zu kümmern. Sie sorgte zum Beispiel dafür, daß ihm zum Neujahrstag ein vollständiges Menü vom Setsugoan geschickt wurde.
Die Regale in Noguchis Bibliothek waren vollgestopft mit europäischen Büchern. Kazu wurde jedesmal von Ehrfurcht ergrifen, wenn sie vor den Büchern stand, deren Sprache sie nicht lesen konnte; und Noguchi, der diese Wirkung einkalkulierte, traf sich deshalb meist in der Bibliothek mit ihr. Kazu blickte an den Regalen entlang und stellte einmal die naive Frage: »Haben Sie all diese Bücher gelesen?«
»Ja, fast alle.«
»Sicher sind auch einige pikante Bücher darunter?«
»Nein, nicht ein einziges.«
Über diese Antwort war Kazu aufrichtig erstaunt. Denn es lag außerhalb ihres Begrifsvermögens, daß es eine Welt geben könnte, die ausschließlich vom Intellekt beherrscht wurde. Hatten nicht alle Dinge zwei Seiten? Aber der tiefe Eindruck, den Noguchi immer wieder auf Kazu machte, rührte wohl daher, daß dieser Mann keine andere Seite zu haben schien als die, die er ihr zeigte. Im Grunde glaubte Kazu nicht, daß es Menschen gab, die nur eine Seite hatten. Aber trotz ihrer Zweifel begann sie, sich allmählich ein Idealbild von Noguchi zu formen, ein beunruhigend schattenhaftes Idealbild, wobei ihr sogar Noguchis steifes, zeremonielles Benehmen geheimnisvoll und anziehend erschien.
Als sie näher mit Noguchi bekannt wurde, stellte sie fest, daß er bei den Menschen fast völlig in Vergessenheit geraten war, und sie wunderte sich, wie wenig ihn das beeindruckte. Obgleich sie seine radikalen politischen Ansichten keineswegs teilte, fand sie, daß die Öfentlichkeit ihn, eben der Fortschrittlichkeit dieser Ideen wegen, zu Unrecht vergessen hatte; und sie beschloß, dies zu ändern. Denn wie ließen sich lebendige Gedanken mit einer toten Existenz vereinbaren? Auch nach der zweiten Niederlage bei den Abgeordnetenwahlen war er noch als Berater der radikalen Partei tätig. Aber nie fuhr ein Wagen für ihn vor, wenn er zu den Versammlungen ging; und Kazu war empört, wenn sie sich vorstellte, daß er mit der Stadtbahn, womöglich stehend und sich am Haltegrif festklammernd hinfahren mußte.
Jedesmal, wenn Kazu Noguchis Haus betrat, überkam sie ein Unbehagen ähnlich wie damals beim Anblick seines unsauberen Hemdkragens und des abgetragenen Mantels. Manchmal sah sie, daß die Flügel des Tores schief hingen manchmal war es die schmutzige abblätternde Farbe auf dem europäischen Holzhaus, die sie störte, oder das Unkraut hinter dem Tor oder die Klingel am Eingang, die nicht repariert wurde. Kazu konnte es sich noch nicht erlauben eigenmächtig Reparaturen an Noguchis Haus ausführen zu lassen. Und Noguch schien auch nicht geneigt, ihr mehr als ein bestimmtes Maß an Fürsorge einzuräumen. Er blieb zurückhaltend. Das reizte Kazu, noch vertrauter mit ihm zu werden.
Im Januar gingen sie, auf Kazus Vorschlag, zusammen ins Kabuki-eate Während Kazu bei allen traurigen Stellen weinte, blieb Noguchi von Anfang bis Ende kühl und teilnahmslos.
»Warum weinen Sie eigentlich bei solch einem törichten Stück?« fragte e interessiert, als sie in der Pause im Foyer standen.
»Ich weiß es nicht. Die Tränen kommen mir ganz natürlich.«
»Das interessiert mich. Versuchen Sie doch bitte, mir genauer zu erklären, was Sie damit meinen: ganz natürlich.« Noguchi sprach in einem so würdevollen Ton, daß Kazu – ganz gegen ihre Absicht – eingeschüchtert war wie ein kleines Mädchen. In diesem Augenblick fürchtete sie sich wirklich vor ihm.
Während die Auführung so, weiterging, stellte Noguchi fest, daß er sein Dunhill-Feuerzeug verloren hatte. Er war außerordentlich bestürzt, als er es entdeckte; alle Erhabenheit und Gelassenheit von vorher waren wie weggewischt Mitten im zweiten Stück erhob er sich halb von seinem Sitz und tastete seine Taschen ab.
Weitere Kostenlose Bücher