Nach dem Ende
grausige Aufgabe gar keinen Schmerz bereitete, weil sie da schon wusste, dass das Böse in ihr wohnte, und dass keine noch so groteske und gewissenlose Tat den Rahmen dessen sprengen konnte, wozu eine wie sie fähig war.
Dann berichtet sie von ihren einsamen Wanderungen, von ihrer Flucht vor den Blicken und Herzen guter Menschen, von ihrem Rückzug in einsame Häuser und – wenn sie von großzügigen Geistern entdeckt wurde, die sie retten wollten – von ihrer immer tieferen Flucht in die entlegensten und verlassensten Winkel des Landes. Manchmal sah sie wochenlang keine Menschenseele. Übte die Stimme in krächzendem Gesang, um nicht völlig zu verstummen.
Sie erzählt von den Augenblicken des Vergessens, wenn sich das schwelende Böse in ihr scheinbar auflöst und das helle Schauspiel des Lebens zu ihr durchdringt. Vor diesen Augenblicken muss sie sich hüten, denn sie sind flüchtig und nicht für sie bestimmt, sondern zur Freude anderer Kinder Gottes. Oder wenn sie doch für sie bestimmt sind, könnten sie ihr das Herz genauso leicht brechen wie es heilen, weil all die Schönheit in der erlittenen Welt die gleiche Art von Schönheit ist, die sie in die Irre geführt und sie dazu verleitet hat, ihren Schützling zu vergessen, jene Schönheit, die Temple den abgrundtiefen Egoismus ihrer eigenen Seele bewiesen hat.
Sie spricht von der Insel, dem Leuchtturm, dem Mond und dem Wunder der Fische.
Von all diesen Dingen erzählt sie der Alten, während die verwitterten Finger klappernd die Nadeln kreuzen, doch danach lässt Temple sie im sich ausbreitenden Schatten zurück, denn die einzige gemeinsame Sprache, die sie haben, ist die Sprache der Verzweiflung, deren Worte eigentlich nur für die taube Weite des Himmels bestimmt sind.
Dritter Teil
13
D ie Straße südlich von Nacogdoches führt offen und gerade über flaches, unwirtliches Gelände. In der Ferne vor ihnen hat eine lange, dichte Zeile von Wolken den Horizont in kohlefarbene Dunkelheit getaucht.
Sieht nach Regen aus, Maury. Ehrlich gesagt hätt ich nix gegen ein bisschen Abkühlung einzuwenden.
Der Mann starrt zum Fenster hinaus.
Bist du bereit für die große Heimkehr, Maury? Bist du froh, endlich diese Verrückte loszuwerden, die dich pausenlos in der Gegend rumschleift?
Sein Blick klebt am Asphalt, der sich vor ihnen entfaltet.
Na ja, ein besonders guter Unterhalter warst du sowieso nie.
Als sie ein riesiges urbanes Einzugsgebiet erreichen, das wohl Houston ist, haben die Wolken den Himmel verdrängt, und dichter Regen trommelt laut aufs Autodach. Sie fährt langsam, denn die Straßen sind unzuverlässig, und unter jeder Pfütze könnte sich ein tückisches Schlagloch verbergen.
Der Highway mit der Bezeichnung 59 bringt sie mitten durch die Stadt. Jenseits der Leitplanken stapfen Schaben durch den Regen – manche von ihnen blicken neugierig auf und bekommen Tropfen in die Augen. Andere sitzen im überquellenden Rinnstein und beobachten, wie die Bäche aus Regenwasser über sie hinwegströmen. Manchmal können die Toten tölpelhaft und kindlich erscheinen. Sie fragt sich, wie es dazu gekommen ist, dass sich die Menschen von diesen albernen Kreaturen in die Nischen und Abstellkammern der Welt haben zurückdrängen lassen.
Sie gelangt zu einer eingestürzten Überführung, deren Trümmer eine andere Fahrbahn blockieren, also muss sie wenden und sich einen Weg durch die Stadtstraßen suchen, um weiter vorn wieder auf den Highway zu gelangen. Die Schaben scharen sich um sie, als sie vorbeikommt, tatschen nach dem Wagen, wenn sie nah genug sind, und torkeln ihr im Schneckentempo nach, angetrieben nicht von Berechnung, sondern vom Instinkt. Wie lang sie ihr wohl hinterhertappen, wenn das Auto nicht mehr zu sehen ist? Wahrscheinlich so lange, bis sie vergessen, worauf sie es abgesehen hatten, bis sich das Bild des Wagens aus ihrem Hirn verflüchtigt hat. Und wie lang dauert das? Wie weit reicht das Gedächtnis der Toten?
Innenstadt. Das Geschäftsviertel, dominiert von Monolithen aus Glas und Stahl. Noch immer gießt es in Strömen, und einige Kreuzungen haben sich in große städtische Seen verwandelt, die bis zum Fahrgestell des Autos reichen. In kleinen Haufen sammelt sich hier der Müll: fleckige Kleiderlumpen, Plastikverpackungen und Pappkartons, Fetzen alter, verwitterter Haut mit noch intakten Haarfollikeln, Papierschnipsel, Tausende von Geschäftsdokumenten, die aus den zerstörten Büros in den Wolkenkratzern herabgeschwebt sind und sich
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