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Nach dem Ende

Nach dem Ende

Titel: Nach dem Ende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alden Bell
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Dinosaurier.
    Die Alte bringt sie zu einem Platz mit mehreren Picknicktischen, der im Schatten eines Holzvordachs liegt. In der Mitte befindet sich eine Feuerstelle mit einer behelfsmäßigen Kochplatte und einem schwarz angelaufenen Topf.
    Siéntese, sagt die Frau. Siéntese.
    Leben Sie hier? In der Nähe bemerkt Temple einen Wohnwagen mit angelehnter Tür. Schlafen Sie da drinnen?
    Als sie keine Antwort bekommt, zuckt Temple die Achseln. Sieht einigermaßen sicher aus. Bis jetzt is Ihnen nix passiert, oder?
    Die Alte wirft mehrere Kaktusblüten in den Topf, in dem bereis andere Zutaten dampfen, und rührt mit einem Holzlöffel um. Unweit der Feuerstelle fallen Temple zwei Grabmarkierungen auf – schlichte Holzkreuze, auf die Fotos von zwei jungen Männern genagelt sind.
    La guerra se llevó muchos hombres buenos. La luz del día dura demasiado tiempo.
    Das sagt mir leider nix. Temple deutet sich ans Ohr und schüttelt den Kopf. Ich versteh Sie nich.
    Die Alte atmet den aufsteigenden Dampf aus dem Topf ein, dann schöpft sie etwas von der Suppe in eine Plastikschale und reicht sie Temple zusammen mit einem alten Metalllöffel. Temple probiert, und es schmeckt gut. So wie die Wüste schmecken würde, wenn Orte Aromen hätten. Sie isst alles auf und auch noch den größten Teil von Maurys Portion, weil er vollauf damit beschäftigt ist, mit den Fingern die Beschaffenheit des Ortes zu erkunden: die Farbe, die den Fiberglasclowns vom Gesicht blättert, zerfaserte Holzplattformen, Rostflecken auf Rädern und Rollen, bunte Plastikfahnen, die im heißen Wind peitschen.
    Temple bedankt sich bei der Alten, doch diese schenkt ihr gar keine Beachtung. Sie stellt die Schüsseln ineinander, räumt sie auf, setzt sich mit überkreuzten Beinen auf den Boden und fängt an, etwas zu singen, das wie ein Gebet oder eine Beschwörung klingt.
    Soy una sepultura –
    doy a luz a los muertos.
    Acojo a los muertos –
    Soy una sepultura.
    Immer wieder leiert die Alte die Worte herunter, unaufhörlich und monoton. Der scharfe Rand des Schattens, den das Vordach wirft, kriecht davon, wie um anzudeuten, dass Abende etwas sind, das in Flecken wächst, gesät von den schattigen Stellen des Tages. Plötzlich bricht die Stimme ab, als hätte jemand einen Stecker aus der Dose gezogen, und die Frau nimmt einen unwahrscheinlich langen Schal mit Nadeln an einem Ende aus einer Holztruhe und beginnt zu stricken. Ganz verstaubt, weil er so viel über den Boden gezerrt wird, schlängelt sich der aus einem harlekinartigen Sammelsurium von Garnen bestehende Schal davon, das andere Ende irgendwo vergraben in dem Kasten hinter ihr.
    Temple wartet, aber die Frau sagt nichts mehr, und der Schatten schleicht sich immer weiter weg.
    Weiter vorn starrt Maury in die Augen eines bemalten Drachen.
    Temple redet. Sie erklärt der Alten, dass sie lang gereist ist, dass sie die Namen all der Orte kennt, durch die sie gekommen ist, und trotzdem das Gefühl hat, sich verirrt zu haben, obwohl das ganz unmöglich ist, weil Gott ein schlauer Gott ist und du immer nur dort bist, wo er es will. Sie erzählt der Frau, dass sie schlimme Taten begangen hat – Taten, die Gott nicht gefallen können – und dass sie sich manchmal fragt, ob Gott vielleicht zornig auf sie ist und ob sie den Unterschied zwischen Gnade und Strafe doch erkennen würde, denn die Welt ist voller Wunder, auch wenn dein Magen leer und dein Haar blutverklebt ist.
    Sie verrät der Frau, dass sie schon ihr ganzes Leben herumreist, zumindest so lange ihre Erinnerung zurückreicht, und dass ihr Kopf schon beinahe voll ist von all den Menschen und Szenen, von Worten, Sünden und Erlösungen.
    Sie schildert das besondere Staunen vor all der Schönheit in der Welt, das dich erfasst, wenn du so böse bist wie sie – wahrscheinlich weil das Schöne und das Böse sich auf entgegengesetzten Seiten einer Mauer befinden wie zwei Liebende, die sich nie berühren können.
    Sie berichtet ihr von den Menschen, die sie getötet hat, nennt die Namen, wenn sie sie kennt, und beschreibt die anderen, aber sie kann sich gar nicht an alle erinnern, sie weiß, dass sie so etwas nicht vergessen dürfte, und sie würde sie alle aufschreiben, bloß dass sie nicht lesen und schreiben kann, weil ihre Pflegefamilie von Fleischsäcken aufgefressen wurde und sie sich in einem Kanalrohr verstecken musste zu einer Zeit, als sie das Alphabet hätte lernen sollen.
    Und sie erzählt ihr von ihrer größten Sünde, von der Sache, die sie von

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