Nach dem Ende
Zivilisation.
Was is mit den Niagarafällen? Gibt’s das auch innerhalb der Absperrung?
Resigniert lehnt er sich zurück. Man wird älter, Temple. Die große weite Welt ist lange Zeit ein tolles Abenteuer, stimmt schon. Aber eines Tages wacht man auf und will bloß eine Tasse Kaffee trinken, ohne gleich an Überleben und Sterben denken zu müssen.
Verstehe. Aber ich bin noch nich so weit.
Gottverdammt, Kleine, was ist nur mit dir passiert? Dir brennt doch was auf der Seele. Du könntest es mir erzählen.
Vielleicht. Aber so weit bin ich auch noch nich.
Auf dem Weg nach Süden ist Maury ganz still. Er spielt mit den Fingern und schaut durchs Fenster, ohne dass sich sein Blick auf etwas Bestimmtes richtet. Am Morgen sprenkelt leichter Regen die Windschutzscheibe, doch eine Stunde hinter Longview hört der Regen auf, und der graue Himmel reißt in Wolken auseinander, die sich wie Fetzen vom strahlenden Blau abheben.
Auf allen Seiten erstreckt sich flaches Land: Wüste mit vereinzelten Büscheln aus dornigem Unkraut und trockenem Gras. Entlang der Straße stehen Autos auf dem Randstreifen oder hängen schräg im Graben. Im Vorbeifahren späht sie in jedes hinein, um vielleicht Überlebende zu entdecken, doch zu ihrer Erleichterung sieht sie niemanden. Neben den Rädern mancher Wagen liegen Leichen, von denen nur noch das Skelett übrig ist, Haut und Fleisch weggefressen, die Knochen weißgeschliffen von Sandstürmen. Andere, die von den Schaben nicht gefunden wurden oder hinter verschlossenen Türen liegen, sind unberührt, die straff über Gesicht und Hände gespannte Haut ledrig und braun.
Sonst nichts. Sie stoppt das Auto, stellt den Motor ab und kurbelt das Fenster hinunter, um zu lauschen. Öd und leer, die Landschaft hat ihr nichts mitzuteilen. Es ist eine taube Welt.
Innerlich driftet sie zu traurigen Orten. Sie denkt an Gott und die Engel, die entscheiden werden, ob sie in den Himmel kommt. Sie denkt an all ihre Verbrechen – an das viele Blut, das sie auf Erden vergossen hat. Sie denkt an die Todd-Brüder. Dem einen hat sie die Hand auf die Luftröhre gedrückt und ihm den Atem geraubt, den anderen hat sie seinem sicheren Tod überlassen, obwohl sie ihn hätte retten können. Sie denkt an Ruby und ihre hübschen Kleider und den rosa Nagellack, der schon völlig abgeblättert ist, und an die Griersons, die ebenfalls hübsche Sachen hatten: einen Plattenspieler, ein Klavier, Modellschiffe und Großvateruhren, polierte Marmortischplatten und Eistee mit Blättern drin. Aber bei der Erinnerung an die Griersons fallen ihr auch die einsamen Männer ein, die in diesem großen Haus gefangen sind, der unglückliche James Grierson, sein Bruder Richard, dessen Blick immer weit hinausging über Zäune, die er nicht zu überklettern wagte, und der helläugige Patriarch im Keller, der nicht wusste, wer er war. Auch ihm hat sie das Leben gestohlen.
Sie muss wahrhaft Todeshände haben, wenn so viel durch ihre Berührung ausgelöscht wird.
Und sie denkt an einen Riesen aus Eisen und an einen Jungen namens Malcolm, der vielleicht sogar ihr eigener Bruder war, an seine Gestalt in ihren Armen, so schlaff und leicht, als bestünde er nur aus Garn.
Als sie Schilder mit der Aufschrift 59 sieht, weiß sie, dass sie kurz vor Nacogdoches ist. Vor einem verfallenen Jahrmarkt entdeckt sie eine alte Frau, die Blüten von einem Kaktus pflückt.
Sie steigt aus und nähert sich der Alten, die sie noch nicht bemerkt hat.
Alles in Ordnung, Ma’am?
Mis hijos tendrán hambre.
Die Alte sammelt weiter Kaktusblüten in einer Schürze, die um ihre Hüften geschlungen ist.
Ich kann nur Englisch. Sprechen Sie Englisch?
Mis hijos necesitarán comida para cuando regresen.
Leben Sie hier in der Gegend?
Zum ersten Mal nimmt die Frau Notiz von Temple. Venga. Usted también come …
Mit einer Geste fordert sie Temple auf mitzukommen. Temple holt Maury aus dem Auto, und zu zweit folgen sie der Alten zu dem hohen, massiven Zaun um den Jahrmarkt. Schließlich gelangen sie zu einer Tür, die mit einem Vorhängeschloss gesichert ist. Die Alte zieht einen Schlüssel aus einer Rockfalte und sperrt auf. Sie winkt sie hinein und führt sie durch die merkwürdigen kaputten Apparate mit langen Hälsen und Reihen farbiger Glühbirnen und zerrissenen Kunststoffsitzen und verbogenen Gleisen.
Temple würde die Maschinen gern ein wenig genauer unter die Lupe nehmen und malt sich aus, dass sie glitzernd und schnurrend dahinpoltern wie bunte
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