Nach Dem Sommer
bis der Sessel nicht mehr seine, sondern meine Form angenommen hatte. Ich lief barfuß durchs Haus, versunken in Verzweiflung, die ich mit niemandem teilen konnte.
Olivia, die Einzige, der ich mich hätte anvertrauen können, konnte ich am Telefon nicht erreichen, und mein Auto - ich konnte es nicht ertragen, daran zu denken - war kaputt und nutzlos.
Und so gab es nur noch mich im Haus - mich und die endlosen Stunden, die sich vor mir erstreckten, und die immer gleich aussehenden, laublosen Bäume des Boundary Wood vor meinem Fenster.
Die Nacht, in der ich ihn heulen hörte, war die schlimmste. Die anderen fingen ohne ihn an, wie sie es auch in den vergangenen drei Nächten getan hatten. Ich rollte mich in dem Ledersessel im Arbeitszimmer zusammen, vergrub mein Gesicht in einem seiner T-Shirts - dem letzten, das noch nach Sam roch - und versuchte mir vorzustellen, dass es bloß eine Tonbandaufnahme mit Wolfs
geheul wäre und keine echten Wölfe. Keine echten Menschen. Und dann, zum ersten Mal seit dem Unfall, hörte ich, wie seine Stimme in das Heulen einfiel.
Es zerriss mir das Herz, nur weil ich seine Stimme hörte. Die anderen schienen ihn langsam zu begleiten, eine bittersüße Weise, doch ich hörte nur Sam. Sein Heulen bebte, wurde lauter und verebbte wie in tiefem Schmerz.
Ich hörte lange zu. Ich betete, dass sie aufhören, mich allein lassen würden, gleichzeitig aber hatte ich furchtbare Angst davor. Noch lange nachdem die anderen Stimmen verklungen waren, heulte Sam weiter, sanft und leise.
Als er schließlich verstummte, war die Nacht tot.
Ich hielt es nicht aus, jetzt stillzusitzen. Ich stand auf und schritt auf und ab, meine Fäuste ballten und öffneten sich im Takt meiner Schritte. Irgendwann nahm ich die Gitarre, auf der Sam gespielt hatte, und zerschlug sie schreiend auf Dads Schreibtisch.
Als Dad nach unten kam, fand er mich inmitten von Holzsplittern und gerissenen Saiten, wie Trümmer eines Bootes voller Musik, das an einer Klippe zerschellt war.
Kapitel 57 - Grace (2°C)
A ls ich nach dem Unfall zum ersten Mal wieder ans Telefon ging, schneite es. Leichte, zarte Flocken segelten am schwarzen Rechteck meines Fensters vorbei wie Blütenblätter. Ich hätte gar nicht abgenommen, wenn es nicht der einzige Mensch gewesen wäre, den ich seit dem Unfall zu erreichen versucht hatte. »Olivia?«
»G-G-Grace?« Olivias Stimme war kaum zu erkennen. Sie schluchzte.
»Olivia, ganz ruhig - was ist denn los?« So eine dumme Frage. Schließlich wusste ich genau, was mit ihr los war.
»I-Ich hatte dir ja erzählt, dass ich über die Wölfe Bescheid weiß.« Zwischen den einzelnen Wörtern rang sie nach Luft. »Aber ich hatte dir nichts vom Krankenhaus gesagt. Jack -«
»Hat dich gebissen«, vervollständigte ich.
»Ja«, schluchzte Olivia. »Erst dachte ich, es wäre nichts passiert, weil ich mich noch Tage danach ganz normal gefühlt habe!«
Mir wurden die Knie weich. »Du hast dich verwandelt?«
»Ich - ich kann nicht - ich -«
Ich schloss die Augen, stellte es mir vor. Oh Gott. »Wo bist du jetzt?«
»An der B-Bushaltestelle.« Sie hielt inne, schniefte. »Es ist so k-kalt.«
»Oh Mann, Olivia. Komm zu mir. Du kannst hier schlafen und
dann kriegen wir das schon hin. Ich würde ja kommen, aber ich hab grad kein Auto.«
Olivia fing wieder an zu weinen.
Ich stand auf und machte meine Zimmertür zu. Nicht dass Mom mich hören würde, sie war sowieso oben. »Keine Sorge, ich komm schon damit klar. Ich hab schließlich gesehen, wie Sam sich verwandelt hat, und da bin ich auch nicht ausgeflippt. Ich weiß, wie das ist. Beruhige dich, okay? Ich kann dich nicht holen kommen, ich hab kein Auto. Du musst herfahren.«
Ich versuchte, sie zu beruhigen, und versicherte ihr, dass die Haustür nicht abgeschlossen sein würde, wenn sie kam. Zum ersten Mal seit dem Unfall fühlte ich mich mir selbst wieder näher.
Als sie ankam, die Augen ganz rot und die Haare zerzaust, schob ich sie in Richtung Badezimmer und suchte ihr ein paar frische Kleider zusammen. Während sie unter der heißen Dusche stand, setzte ich mich auf den Toilettendeckel.
»Wenn du mir deine Geschichte erzählst, dann erzähl ich dir auch meine«, sagte ich. »Ich will wissen, wann Jack dich gebissen hat.«
»Ich hab dir ja erzählt, wie ich ihn beim Wölfefotografieren entdeckt hab und dass ich ihm dann was zu essen gegeben habe. Es war so blöd von mir, dir nichts zu sagen - ich hatte so ein schlechtes Gewissen wegen unseres
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