Nach Dem Sommer
du Sam schon?«
»Wir haben uns erst dieses Jahr kennengelernt, also richtig. Aber seit er mich gerettet hat, habe ich ihn beobachtet.«
Ich parkte in der Einfahrt, stellte den Motor aber noch nicht ab. Olivia beugte sich vor, drehte die Heizung auf und lehnte sich mit geschlossenen Augen in ihrem Sitz zurück. »Ich würde gern vorbeikommen, bevor du dich verwandelst. Nur zum Reden, ist das okay?«
»Das ist mehr als okay, aber es muss wohl leider sehr bald sein, fürchte ich. Ich komme jetzt so langsam an den Punkt, an dem ich nicht mehr zurückkann.«
Mist. Mein Handy piepste, noch ein Anruf. »Heute Nachmittag?«, fragte ich. Er stimmte zu, und ich sagte: »Ich muss auflegen, entschuldige - da ruft noch jemand an.«
Wir verabschiedeten uns und ich nahm den nächsten Anruf an.
»Verdammt noch mal, Grace, wie oft wolltest du es denn noch klingeln lassen? Achtzehnmal, zwanzig, oder vielleicht hundert?« Es war Isabel; ich hatte seit dem Tag nach dem Unfall nichts mehr von ihr gehört, als ich ihr Bescheid sagte, wo Jack war.
»Woher willst du wissen, dass ich nicht bis gerade in der Schule gesessen hab und jetzt erwürgt worden bin, weil mein Handy im Unterricht geklingelt hat?«, entgegnete ich.
»Du warst nicht in der Schule. Egal, ich brauche deine Hilfe. Meine Mutter hat bei der Arbeit in der Klinik noch einen Patienten mit Meningitis gesehen - mit der schlimmsten Sorte. Als ich da war, hab ich ihm Blut abgenommen. Drei Ampullen.«
Ich musste mehrmals blinzeln, bevor ich verstand, was sie mir da erzählte. »Du hast was?! Warum?«
»Grace, ich dachte, du wärst die Beste in deiner Klasse - das hast du wohl nur dem allgemein sinkenden Niveau zu verdanken. Jetzt versuch dich mal zu konzentrieren. Als meine Mutter gerade telefoniert hat, habe ich mich als Krankenschwester ausgegeben und ihm Blut abgenommen, sein fieses, infiziertes Blut.«
»Du weißt, wie man Blut abnimmt?«
»Ja, ich weiß, wie man Blut abnimmt! Das weiß doch jeder. Sag mal, kapierst du eigentlich, was ich sage? Drei Ampullen. Eine für Jack. Eine für Sam. Eine für Olivia. Du musst mir helfen, Jack rüber in die Klinik zu bringen. Das Blut ist da drüben im Kühlschrank, ich hatte Angst, es mitzunehmen, sonst sterben nachher noch die Bakterien oder was die Dinger eben sonst machen. Auf jeden Fall weiß ich nicht, wo dieser Typ wohnt, bei dem Jack ist.«
»Du willst ihnen eine Spritze geben und sie mit Meningitis infizieren?«
»Nein, mit Malaria. Ja, du Nuss, ich will sie mit Meningitis infizieren. Wie wir wissen, bekommt man dabei vor allem - na, was wohl? Richtig, Fieber. Und wenn ich ehrlich bin, ist es mir scheißegal, ob du es bei Sam und Olivia machst. Bei Sam wirkt's wahrscheinlich eh nicht, weil er schon ein Wolf ist. Aber ich dachte mir, ich müsste dem Kerl genug Blut für alle abzapfen, damit du mir hilfst.«
»Isabel, ich hätte dir sowieso geholfen«, seufzte ich. »Ich sag dir jetzt die Adresse. In einer Stunde treffen wir uns da.«
Kapitel 58 - Grace (6°C)
I n Becks Keller zu sein, machte mich gleichzeitig so glücklich und so traurig, wie ich es nicht mehr gewesen war, seit sich Sam in einen Wolf verwandelt hatte; denn Beck dort zu sehen - in seiner eigenen Welt -, war, als würde ich Sam wiedersehen. Es fing an, nachdem wir Olivia ins Badezimmer gebracht hatten, weil sie sich übergeben musste, und Beck uns an der Kellertreppe erwartete - es war zu kalt, als dass er uns die Haustür hätte öffnen können -, und mir wurde bewusst, wie viele Gesten und Eigenarten Sam von Beck übernommen hatte. Selbst die einfachsten Bewegungen: wie er beiläufig mit der Hand über einen Lichtschalter fuhr, wie er den Kopf neigte, um uns zu bedeuten, dass wir ihm nach unten folgen sollten, wie er sich umständlich duckte, um einem niedrigen Balken am unteren Ende der Treppe auszuweichen. Das alles erinnerte mich so sehr an Sam, dass es wehtat.
Dann kamen wir unten an und ich schnappte nach Luft. Der große Kellerraum war bis zum Bersten mit Büchern gefüllt. Nicht einfach Büchern. Es war eine Bibliothek. An den Wänden reihten sich Regale, die bis zur niedrigen Decke reichten, vollgestopft mit Büchern. Ich musste gar nicht näher an die Regale herangehen, um zu sehen, dass sie geordnet waren: große, dicke Atlanten und Enzyklopädien in einem Regal; dünne, bunte Taschenbücher mit verknickten Ecken in einem anderen; große Fotobände mit Druckbuchsta
ben auf dem Rücken; gebundene Romane mit glänzenden
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