Nach Dem Sommer
über den Tisch mit den Fotos beugte, und dann mich, auf der anderen Seite des Tisches mit einem weiteren Stapel Fotos, »nichts tut. Könnt ihr das nicht auch allein?«
Olivia schwieg und strich die Kanten ihres Fotostapels glatt, während ich erklärte: »Wir sind introvertiert. Das heißt, wir sind gerne zusammen und machen nichts. Nur reden und so wenig Action wie möglich.«
»Klingt ja faszinierend. Olive, wir müssen los, wenn du pünktlich zu deinem Kurs kommen willst.« Er boxte mich spielerisch in die Seite. »Hey, willst du nicht mitkommen, Grace? Sind deine Eltern zu Hause?«
Ich schnaubte. »Soll das ein Scherz sein? Ich erziehe mich sozusagen selbst. Ich sollte einen Haushaltsvorsteherbonus auf alle meine Ausgaben bekommen.« John lachte, wahrscheinlich lauter, als mein Kommentar es verdient hatte, und Olivia warf mir einen so giftigen Blick zu, dass man ein kleines Tier damit hätte töten können. Ich sagte nichts mehr.
»Komm schon, Olive«, drängte John, dem offenbar die Giftpfeile nicht auffielen, die aus Olivias Augen schössen. »Du zahlst für den Kurs, ob du hingehst oder nicht. Kommst du nun mit, Grace?«
Ich sah aus dem Fenster und stellte mir zum ersten Mal seit Monaten vor, wie ich zwischen den Bäumen verschwand und einfach nur rannte, bis ich meinen Wolf fand, in einem Sommerwald. Ich schüttelte den Kopf. »Heute nicht. Ein andermal, ja?«
John schenkte mir ein schiefes Lächeln. »Okay Komm, Olive. Bis dann, meine Schöne. Du weißt ja, an wen du dich wenden musst, wenn du mal ein bisschen Action willst neben all dem Reden.«
Olivia schwenkte ihren Rucksack nach ihrem Bruder, man hörte ein dumpfes Fomp , als er seinen Körper traf. Aber den finsteren Blick bekam wieder ich ab, als hätte ich irgendwas getan, was John zum Flirten ermutigte. »Geh. Geh einfach. Bis dann, Grace.«
Ich brachte sie noch zur Tür und schlenderte dann ziellos in die Küche zurück. Eine angenehm nüchterne Stimme folgte mir dorthin, die eines Radiomoderators, der das klassische Musikstück beschrieb, das gerade zu Ende gegangen war, und jetzt ein anderes ansagte. Dad hatte in seinem Arbeitszimmer neben der Küche das Radio angelassen. Irgendwie betonten die Geräusche, die an meine Eltern erinnerten, ihre Abwesenheit nur noch mehr. Da ich wusste, dass das Abendessen nur aus Dosenbohnen in Tomatensoße bestehen würde, wenn ich es nicht selber machte, kramte ich ein wenig im Kühlschrank herum und stellte einen Topf mit der Suppe vom Vortag auf den Herd. Wenn meine Eltern nach Hause kamen, würde sie warm sein.
So stand ich in der Küche im kühlen Licht der schrägen Nachmittagssonne, die durch die Verandatür fiel, und bemitleidete mich selbst. Mehr wegen Olivias Foto als wegen des leeren Hauses. Ich hatte meinen Wolf seit fast einer Woche, dem Tag, an dem ich ihn berührt hatte, nicht mehr gesehen. Und obwohl ich wusste, wie dumm das war, tat seine Abwesenheit weh. Es war wirklich verrückt, wie sehr ich davon abhängig war, dass er am anderen Ende des Gartens auftauchte. Nur dann fühlte ich mich vollständig. Hoffnungslos verrückt.
Ich ging zur Verandatür und schob sie auf, ich wollte den Wald riechen. Auf Socken tappte ich über die Veranda und lehnte mich gegen das Geländer.
Wäre ich nicht nach draußen gegangen, hätte ich den Schrei vielleicht nicht gehört.
Kapitel 9 - Grace (14°C)
W ieder ertönte der Schrei aus dem Wald. Einen Moment lang dachte ich, es wäre eher ein Jaulen, doch dann fügte es sich zu Worten: »Hilfe! Hilfe!«
Ich hätte schwören können, dass es Jack Culpepers Stimme war.
Aber das war unmöglich. Das bildete ich mir nur ein, wahrscheinlich weil ich seine Stimme so oft in der Schulcafeteria gehört hatte, wo sie immer alle anderen übertönte, wenn er auf dem Flur lautstark die Mädchen anbaggerte.
Dennoch ging ich der Stimme nach, folgte ihrem Klang durch den Garten bis zwischen die Bäume. Der Boden war feucht und bei jedem Schritt bohrten sich Steinchen durch meine Socken; ohne Schuhe bewegte ich mich ziemlich unbeholfen. Ich raschelte so laut durch Laub und Gestrüpp, dass alle anderen Geräusche darin untergingen.
Zögernd blieb ich stehen und lauschte. Die Stimme war verschwunden, jetzt war da nur noch ein Wimmern, das sich sehr nach einem Tier anhörte, und dann - Stille.
Der vergleichsweise sichere Garten lag nun weit hinter mir. Eine ganze Weile stand ich so da und versuchte herauszuhören, woher der erste Schrei gekommen war. Ich wusste, ich
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