Nach Dem Sommer
möchte 7 .«
Olivia warf mir einen langen Blick zu und wandte sich in Richtung unseres Gemeinschaftsraums. »Grace, jetzt mal im Ernst. Ich weiß doch, worum es hier geht.«
»Ach, und worum geht's?«
Sie stellte mir eine Gegenfrage. »Sind das da im Wald vielleicht alles Werwölfe?«
»Wer? Das ganze Rudel? Weiß ich nicht. Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.« Es war mir wirklich nicht in den Sinn gekommen. Es lag zwar auf der Hand, aber ich hatte einfach nicht daran gedacht. Das war doch unmöglich: War das etwa der Grund für seine lange Abwesenheit? Weil mein Wolf in dieser Zeit als Mensch herumlief? Dieser Gedanke war kaum zu ertragen, und zwar weil ich mir so sehr wünschte, er möge wahr sein, dass es wehtat.
»Ja, klar, sicher hast du das nicht. Findest du deine Besessenheit langsam nicht selbst ein bisschen gruselig, Grace?«
Meine Antwort klang defensiver als geplant. »Ich bin nicht besessen.«
Wir ernteten ein paar genervte Blicke, als Olivia mitten auf dem Flur stehen blieb und den Zeigefinger ans Kinn legte. »Hmmm, mal überlegen, du denkst an nichts anderes, du redest von nichts anderem und willst auch nichts anderes hören. Wie nennt man so was noch mal? Ach ja, ich hab's! Besessen!«
»Ich interessiere mich halt für sie«, verteidigte ich mich gereizt. »Und du doch auch. Dachte ich zumindest.«
»Tu ich ja auch. Aber ich bin nicht so vollkommen allumfassend absolut total interessiert. Ich wünsche mir nicht, eine von ihnen zu sein.« Sie kniff die Augen hinter der Lesebrille zusammen. »Wir sind nicht mehr dreizehn, aber das hast du anscheinend noch nicht mitgekriegt.«
Ich sagte kein Wort. Alles, was mir dazu einfiel, war, wie ungeheuer unfair sie war, aber darüber wollte ich nicht mit ihr reden. Ich wollte überhaupt nicht mehr mit ihr reden, sondern auf dem Absatz kehrtmachen und sie einfach dort im Gang stehen lassen. Aber das tat ich nicht, sondern sagte mit bewusst ruhiger, ausgeglichener Stimme: »Tja, entschuldige, dass ich dich so lange gelangweilt habe. Muss ja echt die Hölle für dich gewesen sein, immer so viel Interesse zu heucheln.«
Olivia zog ein Gesicht. »Mensch, Grace. Ich will ja nicht fies sein oder so, aber gerade bist du einfach unmöglich.«
»Nein, du erzählst mir nur, dass ich gruselig bin und besessen, dabei ist mir das wirklich wichtig. Das ist eine überaus« - es dauerte zu lange, bis das Wort, nach dem ich suchte, in meinem Kopf auftauchte, was die Wirkung ruinierte - » philanthropische Einstellung. Vielen Dank auch.«
»Ach, werd endlich erwachsen«, schimpfte Olivia und schob sich an mir vorbei.
Nachdem sie weg war, schien der Flur auf einmal viel zu still. Meine Wangen brannten. Statt nach Hause zu gehen, schlurfte ich in den leeren Gemeinschaftsraum, ließ mich auf einen Stuhl fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich mich zum letzten Mal mit Olivia gestritten hatte. Ich hatte mir jedes Foto angesehen, das sie jemals gemacht hatte. Ich hatte mir unzählige Tiraden über ihre Familie und den ewigen Leistungsdruck angehört, unter dem sie stand. Sie hätte mir zuhören können, zumindest das war sie mir schuldig.
Meine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als ein paar Korkabsätze ins Zimmer schmatzten. Ihr teures Parfüm hüllte mich schon ein, bevor ich zu Isabel Culpeper aufsah, die vor meinem Tisch stand.
»Ich hab gehört, dass ihr gestern mit diesem Polizisten über die
Wölfe geredet habt.« Isabels Stimme war freundlich, aber ihr Gesichtsausdruck passte nicht zum Tonfall. Das Mitgefühl, das ich zuerst für sie empfunden hatte, verschwand schlagartig, als sie weiterredete. »Ich sag jetzt mal, im Zweifel für den Angeklagten, und nehme an, dass du es einfach nicht besser weißt und nicht etwa komplett bescheuert bist. Ich hab gehört, dass du rumerzählst, es gäbe kein Problem mit den Wölfen. Du hast wohl in letzter Zeit keine Nachrichten gehört: Diese Viecher haben meinen Bruder getötet.«
»Das mit Jack tut mir leid«, fing ich an. Ich hatte das automatische Bedürfnis, meinen Wolf zu verteidigen. Einen Augenblick lang musste ich an Jacks Augen denken und überlegte, was diese Offenbarung wohl für Isabel bedeuten würde, aber ich tat den Gedanken sofort ab. Wenn Olivia mich schon für verrückt hielt, weil ich an Werwölfe glaubte, hätte Isabel Culpeper wahrscheinlich die nächste Anstalt an der Strippe, bevor ich auch nur meinen Satz beenden konnte.
»Halt - die -
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