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Nach Dem Sommer

Nach Dem Sommer

Titel: Nach Dem Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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hatte ihn mir nicht eingebildet.
    Aber alles blieb still. Und in dieser Stille kroch mir der Wald
    geruch unter die Haut und ich musste an ihn denken. Zerdrückte Kiefernnadeln, feuchte Erde und Holzfeuer.
    Es war mir egal, wie idiotisch das wirken musste. Nun war ich schon so weit in den Wald gegangen; ein Stück weiterzulaufen, um vielleicht meinen Wolf wiederzusehen, würde jetzt auch nicht schaden. Ich rannte zum Haus zurück - nur kurz, um mir Schuhe anzuziehen - und lief wieder hinaus in den kühlen Herbsttag. In den Windböen lag bereits eine Schärfe, die den Winter ankündigte, aber die Sonne strahlte, und im Schutz der Bäume wärmte die Erinnerung an heiße, noch nicht lang vergangene Sommertage die Luft.
    Um mich herum starben die Blätter einen prachtvollen Tod in Rot und Orange. Über mir krächzten die Krähen und lieferten den lebhaften, misstönenden Soundtrack zu dieser Szenerie. So weit war ich zum letzten Mal mit elf Jahren im Wald gewesen, als ich plötzlich umringt von Wölfen aufwachte, aber eigenartigerweise hatte ich keine Angst.
    Ich setzte meine Schritte jetzt vorsichtiger, um nicht in eins der kleinen Rinnsale zu treten, die sich durchs Unterholz schlängelten. Dafür, dass dies hier unbekanntes Terrain für mich war, fühlte ich mich erstaunlich sicher und selbstbewusst. Als ob mich eine Art sechster Sinn leitete, folgte ich den schmalen Trampelpfaden, die auch die Wölfe benutzten.
    Natürlich war mir klar, dass es eigentlich kein sechster Sinn war. Es lag an mir und daran, dass hinter meinen fünf Sinnen einfach mehr steckte, als ich für gewöhnlich zugab. Jetzt ließ ich mich auf sie ein und sie schärften sich, fingen an zu arbeiten. In der Brise schien das Wissen eines ganzen Stapels Landkarten zu liegen, sie verriet mir, welche Tiere wo gewesen waren und vor wie langer Zeit. Meine Ohren fingen leise Geräusche auf, die mir vorher nicht aufgefallen waren: den raschelnden Zweig, mit dem ein Vogel sein Nest über mir baute, oder den leichten Schritt eines Hirsches in etlichen Metern Entfernung.
    Ich fühlte mich zu Hause.
    Ein ungewohnter Schrei hallte durch den Wald, vollkommen fremdartig in dieser Welt. Ich blieb stehen und lauschte. Da war das Wimmern wieder, diesmal lauter.
    Hinter einer Kiefer entdeckte ich den Ursprung des Geräuschs: drei Wölfe. Es waren die weiße Wölfin und der schwarze Rudelführer; beim Anblick der Wölfin zog sich mir nervös der Magen zusammen. Die beiden hatten sich auf einen dritten Wolf gestürzt, ein zotteliges junges Männchen, dessen graues Fell beinahe blau schimmerte und das eine böse, langsam verheilende Wunde an der Schulter hatte. Wie zur Demonstration ihrer Überlegenheit drückten die anderen Wölfe ihn auf die laubbedeckte Erde. Alle drei erstarrten, als sie mich sahen. Der Wolf auf dem Boden wandte den Kopf und blickte mich flehend an. Das Herz hämmerte mir in der Brust. Diese Augen kannte ich. Ich kannte sie aus den Nachrichten. Und aus der Schule.
    »Jack?«, flüsterte ich.
    Das graublaue Männchen fiepte mitleiderregend. Ich konnte den Blick nicht von seinen Augen wenden. Haselnussbraun. Hatten Wölfe haselnussbraune Augen? Vielleicht. Aber warum wirkten sie dann so fehl am Platz? Ich starrte sie an und in meinem Kopf flackerte immer wieder ein einziges Wort auf: menschlich, menschlich, menschlich.
    Mit einem Zähnefletschen in meine Richtung ließ ihn die weiße Wölfin schließlich aufstehen. Sie schnappte nach seiner Flanke und schob ihn von mir weg. Dabei ließ sie mich nicht aus den Augen, als warte sie darauf, dass ich versuchte, sie aufzuhalten. Und irgendetwas sagte mir, dass ich es vielleicht hätte tun sollen. Doch als mein
    Kopf endlich nicht mehr schwirrte und mir das Taschenmesser in meiner Hose wieder einfiel, waren die drei Wölfe nur noch dunkle Punkte zwischen den Bäumen in der Ferne.
    Jetzt, ohne den Wolf vor mir zu haben, fragte ich mich doch, ob ich mir nicht bloß eingebildet hatte, dass seine Augen wie die von Jack aussahen. Schließlich war es schon zwei Wochen her, dass ich Jack selbst gesehen hatte, und außerdem hatte ich ihn nie groß beachtet. Ich konnte mich wegen seiner Augen auch irren. Und wenn nicht, was glaubte ich denn? Etwa, dass er sich in einen Wolf verwandelt hatte?
    Ich atmete langsam aus. Genau das war es, was ich glaubte. Ich hatte Jacks Augen bestimmt nicht vergessen. Oder seine Stimme. Und weder den menschlichen Schrei noch das verzweifelte Geheul hatte ich mir eingebildet. Ich wusste

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