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Nach Dem Sommer

Nach Dem Sommer

Titel: Nach Dem Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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hatte.
    »Ich will nicht zurück.« Diese gequälten Worte riefen bei mir sofort eine Erinnerung wach: ein Wolf, der voll stummem Schmerz vor mir stand. Ein Ruck fuhr durch den Körper des Jungen, eine bizarre, unnatürliche Bewegung, deren Anblick mich erschaudern ließ. »Lass - lass nicht zu, dass ich mich verwandle.«
    Ich breitete ein zweites, größeres Geschirrtuch über ihn und versuchte, seine Gänsehaut so gut wie möglich damit zu bedecken. In jeder anderen Situation wäre es mir peinlich gewesen, dass er nackt war, aber in diesem Augenblick - verdreckt und blutverschmiert, wie er war - wirkte er dadurch nur noch verletzlicher. Ich sprach ganz leise und vorsichtig, als könnte er trotz allem jeden Moment aufspringen und wegrennen. »Wie heißt du?«
    Er stöhnte leise auf, und die Hand, mit der er sich das Tuch an den Hals drückte, zitterte ein wenig. Es war schon durchgeweicht von seinem Blut und an seinem Kinn lief ein dünnes rotes Rinnsal hinunter und tropfte auf die Dielen. Vorsichtig streckte er sich der
    Länge nach aus, bis er mit der Wange den Boden berührte. Das polierte Holz beschlug unter seinem Atem. »Sam.«
    Er schloss die Augen.
    »Sam«, wiederholte ich. »Ich bin Grace. Ich fahre jetzt den Wagen von meinem Dad vor. Du musst ins Krankenhaus.«
    Er schauderte. Ich musste ihm ganz nah kommen, um seine Stimme hören zu können. »Grace - Grace, ich -«
    Ich wartete nur eine Sekunde ab, ob er weiterreden würde. Als er es nicht tat, sprang ich auf und schnappte mir die Schlüssel von der Theke. Ich konnte immer noch kaum glauben, dass ich ihn mir nicht bloß einbildete - wie lange hatte ich davon geträumt? Was immer er auch sein mochte, er war hier bei mir und ich würde ihn nicht mehr gehen lassen.

  Kapitel 13 - Sam (7°C)
    I ch war kein Wolf, aber ich war auch noch nicht Sam.
    Ich war ein triefender Leib, der sich über dem Versprechen klaren Denkens wölbte: der eisige Wald weit hinter mir, das Mädchen auf der Reifenschaukel, das Geräusch von Fingern an der Eisenkette. Zukunft und Vergangenheit waren eins, Schnee und Sommer und dann wieder Schnee.
    Ein Spinnennetz aus Eis, zersprungen in unzählbare Farbsplitter, unermesslich traurig.
    »Sam«, sagte das Mädchen. »Sam.«
    Sie war Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ich wollte antworten, aber ich war zerbrochen.

  Kapitel 14 - Grace (7°C)
    I ch weiß, es ist unhöflich, Leute anzustarren, aber bei jemandem, der unter Narkose steht, hat man den entscheidenden Vorteil, dass er es gar nicht merkt. Und um ehrlich zu sein: Ich konnte einfach nicht aufhören, Sam anzustarren. Wenn er auf meine Schule gegangen wäre, hätten ihn wahrscheinlich alle für einen Emo oder ein verschollenes Mitglied der Beatles gehalten - mit diesem schwarzen Pilzkopf und einer markanten Nase, mit der ein Mädchen sich nicht auf die Straße trauen könnte. Er sah kein bisschen aus wie ein Wolf, aber total wie mein Wolf. Sogar jetzt, da seine Augen, die ich so gut kannte, geschlossen waren, hüpfte ein kleiner Teil von mir voll irrationaler Freude auf und ab und rief mir immer wieder zu: Er ist es.
    »Ach, Schätzchen, bist du etwa immer noch hier? Ich dachte, du wärst schon längst weg.«
    Ich drehte mich um, als der grüne Vorhang sich öffnete und eine stämmige Krankenschwester hindurchtrat. Sunny stand auf ihrem Namensschild.
    »Ich warte, bis er wach wird.« Wie um zu beweisen, dass ich nicht so leicht loszuwerden war, hielt ich mich am Gestell des Krankenhausbetts fest.
    Sunny lächelte mir mitleidig zu. »Süße, er hat eine ziemlich starke Narkose bekommen. Vor morgen früh wacht der nicht auf.«
    Ich lächelte zurück und entgegnete mit fester Stimme: »Tja, dann bleibe ich wohl bis morgen früh hier.«
    Ich war schon seit Stunden hier und die Wunde war mittlerweile genäht worden; jetzt war es sicher schon nach Mitternacht. Ich erwartete, jeden Moment müde zu werden, aber dafür war ich wohl einfach zu aufgedreht. Immer wenn ich ihn ansah, durchfuhr es mich wie ein Stromschlag. Erst nach einer ganzen Weile fiel mir auf, dass meine Eltern gar nicht versucht hatten, mich auf dem Handy anzurufen, nachdem sie von Moms Galerieeröffnung zurückgekommen waren. Wahrscheinlich hatten sie das blutige Handtuch, mit dem ich den Boden flüchtig aufgewischt hatte, noch nicht einmal bemerkt, genauso wenig wie die Tatsache, dass Dads Auto nicht an seinem Platz stand. Oder sie waren noch gar nicht zu Hause. Mitternacht war ziemlich früh für sie.
    Sunnys

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